Music Education in the Postdigital Age: Didaktische Implikationen aus der Erforschung popularmusikalischer Kreativität im 21. Jahrhundert
Marc Godau1, Julia Barreiro1, Katharina Hermann2, Timo Neuhausen1, Verena Weidner2
1Universität Paderborn, Deutschland; 2Universität Erfurt, Deutschland
Die Ubiquitarität des Digitalen im 21. Jahrhundert hat künstlerische Praktiken fundamental transformiert. Vor allem Algorithmen, Digital Audio Workstations und Short-Video-Plattformen haben insgesamt kreative Praktiken verändert und New Amateurs (Prior, 2018), One-Person-Bands (Godau & Neuhausen, i.E.), Bedroom Producers (Neuhausen, i.E.) oder Platform Musicians (Haenisch et al., 2023) hervorgebracht. Diese Wandlungen kulminieren im »hyphenated musician« (Théberge, 1997; Tobias, 2012) als dem aktuellen Standardsubjekt popularmusikalischer Praxis, in dem vormals getrennte Berufsgruppen (Instrumentalist:in, Produzent:in, Content Creator etc.) in Personalunion hybridisieren.
Hingegen wird in der Musikpädagogik trotz eines Songwriting-Booms einerseits generell für die Auseinandersetzung mit Popmusik das Band-Modell mit traditionellen Instrumenten (Gesang, Gitarre, Drums, Bass & Keyboard) überbetont, andererseits sind die dahinter liegenden didaktischen Konzepte kaum empirisch begründet (Godau & Haenisch, 2022). Selbst Vertreter:innen des sogenannten Informal Learning Approach (Godau, 2017; Green, 2002/2008; Mariguddi, 2022) haben diese Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre selten grundsätzlich reflektiert.
An diesem Punkt setzt das vom BMBF geförderte Verbundprojekt “Musical Communities in the (Post)Digital Age” (12/2020-11/2024) der Universitäten Erfurt und Paderborn an, der Songwriting in unterschiedlichen Kontexten erforscht. Während Paderborn die Soziomaterialität von Praktiken des Songwritings in informellen Kontexten rekonstruiert, untersucht Erfurt Praktiken des Songwriting im formalen Schulmusikunterricht. Aus der Zusammenführung beider Teilprojekte wurde das “Vier-Räume-Modell” als didaktisches Konzept entwickelt und in 13 Klassen implementiert und empirisch begleitet.
In unserem Vortrag präsentieren wir Implikationen für die Musikpädagogik, die sich aus der Zusammenschau der empirischen Ergebnisse beider Projekte ergeben. Dabei fokussieren wir mit (1) Lernen als Vernetzung, (2) verteilter Autor:innenschaft sowie (3) Orientierung an Performances in divergierenden Kontexten zentrale Ansprüche an musikalische Kreativität unter Bedingungen der Postdigitalität, die Aufschluss über Rollen von Lernenden und Lehrenden geben. Unser Ziel ist es, eine Diskussion über die Rolle der Musikpädagogik im 21. Jahrhundert anzuregen.
Postdigitalität und Musikpädagogik – Versuch einer aktualisierten Begriffsbestimmung.
Fabian Bade
Musikhochschule Lübeck, Deutschland
Längst ist Postdigitalität – zunächst verstanden als Zustand zunehmender Durchdringung (1) des gesellschaftlichen Alltags, (2) von Kulturen sowie (3) von Technologien durch ubiquitäre Digitalisierung – kein interdiszipinäres Konzept mehr, sondern konstituiert sich seit jeher vor allem durch außerwissenschaftliche Entwicklungen und Paradigmenwechsel, was eine transdisziplinäre Beschreibung erforderlich macht. Der Beitrag versucht insofern eine aktualisierte Begriffsbestimmung vorzulegen, als dass unter Berücksichtigung der Wirkmacht einzelner »Digitalisierungsschritte« unterschiedliche Sichtweisen von bzw. auf Postdigitalität auf ihr Potenzial für eine postdigitale Musikpädagogik hin befragt und in den Blick genommen werden, wie etwa postdigitale Ästhetik (Cramer 2014), postdigitale Wissenschaft und Erziehung (Jandrić, Knox, Besley, Ryberg, Suoranta, Hayes 2018), Postdigital Humanities (Berry 2011), postdigitale Philosophie/Infosphäre (Floridi 2011) oder postdigital soundscapes und deren soziale, historische und philosophische Nexūs (Ford 2022). Ziel ist es weiterhin, (1) identifizierte musikpädagogische Potenziale zu explizieren und dadurch – zumindest temporär – begriffliche Klarheit zu schaffen, indem (2) Abgrenzungen zu anderen Begriffen und Konstrukten (etwa Stalders »Kultur der Digitalität«) geschaffen werden.
Musikalischer Amateurismus im 21. Jahrhundert – Kultursoziologische Ein- und Ausblicke für eine postdigitale Musikpädagogik
Marc Godau
Universität Paderborn, Deutschland
Ein zentraler Fokus musikpädagogischer Bemühungen in Bildungsinstitutionen liegt auf Amateur:innen, etwa auf Lernenden ohne musizierpraktische Vorerfahrungen. John Kratus (2019) schlug in einer Kritik an der US-amerikanischen Musikpädagogik sogar eine künftige Neujustierung weg vom professionellen Musikmachen hin zum lebenslangen Amateur:innenmusizieren vor. Vor diesem Hintergrund will mein theoretischer Vortrag die spezifische Bedeutung musikalischen Amateurismus im postdigitalen Zeitalter beleuchten.
Mein Fokus liegt (1) auf der historisch gestiegenen Rolle von Technologiekonzernen in der Plattformisierung von Bildung und der Erfolgsgeschichte von Digital Audio Workstations (DAWs), die seit den 1980ern Home- und Mobile Recording kultivieren und neue Standards setzten. Diese Entwicklungen münden in der Figur des New Amateurs (Prior, 2010), die technologisch versiert nach professionellen Standards, aber ohne die Unterstützung des Berufsstandes Musik machen (Harkins & Prior, 2022, S. 85; Koszolko, 2022, S. 219). Social Media-Plattformen wie YouTube, TikTok oder Instagram zeigen (2), wie eine ubiquitäre Performativität Formen kreativer Praxis (Godau, 2024; Haenisch et al., 2023; Kaye et al., 2022) und Internet-Volkskunst hervorgebracht hat (Douglas, 2014, S. 327). Exemplarisch sollen ästhetische Erfahrungen mit Cringe-Musik hervorgehoben werden (z. B. Dahl, 2018; Hirmer, 2018; Koushal, 2023). Solche dilettantischen audiovisuellen Medienprodukte etwa in Form von Short Videos sind nicht nur Effekt niederschwelliger Partizipationsmöglichkeiten, sondern rücken wichtige Elemente postdigitaler Medienkultur in den Vordergrund, insofern „awkwardness, embarrassment and cringe are one of the defining themes of humor from the 2000s onward“ (Attardo, 2023, S. 190). Daran anschließend greifen (3) Content Creators zunehmend Ästhetiken des kalibrierten Amateurismus (Abidin, 2017; Jaakkola, 2023) auf, der als Gegenpol zu hegemonialen Ästhetiken und Perfektionsnormen wirken kann. Inszenierte Alltäglichkeit, Unvollkommenheit oder Internet Ugly liefern Beispiele einer performativen Authentizität, mit der die Kluft zu den Followers verringert werden soll und die zugleich als kritischer Kontrapunkt zur digitalen Optimierung wirkt (Taylor, 2022, S. 30).
Diese kultursoziologischen Beobachtungen dilettantischer Musikpraxis im 21. Jahrhundert sollen Anlass zu einer kritischen Diskussion über einige Implikationen für eine konturierte postdigitale Musikpädagogik geben.
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