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Von der „Ortssprache“ über die verheimlichte Heritage Language zu transkulturellen Praktiken: Fluide Identitäten, Praktiken und Sprachpolitiken der deutschen Minderheit in Lettland
Präsentationen
Von der „Ortssprache“ über die verheimlichte Heritage Language zu transkulturellen Praktiken: Fluide Identitäten, Praktiken und Sprachpolitiken der deutschen Minderheit in Lettland
Heiko F. Marten1,2
1Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Deutschland; 2Technologische Akademie Rēzekne, Lettland
Minderheitensprachen können mit sehr unterschiedlichen Biographien, Identitäten und Sprachpraktiken verbunden sind. Neben schon lange in einer Region beheimateten Minderheitensprachen erfahren heute verstärkt Sprachen Aufmerksamkeit, die durch jüngere Migrationsbewegungen eine Region erreicht haben. Diese können dabei auch als Herkunftssprachen bzw. Heritage Languages von transnational lebenden Personen eine Rolle spielen.
Die deutsche Minderheit in Lettland ist ein Beispiel dafür, wie sich derartige Rollen einer Sprache ändern und vermischen können. Die deutsche Sprache war im Baltikum über Jahrhunderte primär mit ökonomischen und kulturellen Eliten verbunden. Nach der Ausreise der meisten Deutschsprachigen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor Deutsch jedoch seine Rolle als „Ortssprache“ und wurde zunächst zu einer oftmals verheimlichten Heritage Language.
Ein aktuelles Forschungsprojekt am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim untersucht vor diesem Hintergrund mithilfe von Interviews und ethnographischen Beobachtungen, welche Rolle Deutsch für die traditionelle deutsche Minderheit in Lettland heute hat. Dabei ist Deutsch vor allem als Heritage Language im Wortsinne präsent, d.h. als Sprache aktualisierter historischer Identitäten und eines Kulturerbes, die im Alltag jenseits konkreter Nischen nur eine geringe Rolle spielt. Gleichzeitig ist Deutsch aber seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands 1991 in anderen Situationen aktualisiert worden: Nachfahren von ehemaligen Auswanderern und neue Deutschsprachige sind ins Land gekommen, und auch Personen ohne deutschen Hintergrund gebrauchen Deutsch im transkulturellen Austausch zwischen Lettland und dem deutschsprachigen Raum in Wirtschaft, Politik, Kultur und Bildung.
In individuellen wie gesellschaftlichen Sprachpraktiken und Sprachenpolitiken in Lettland kommen damit sehr heterogene Personengruppen und Funktionen des Deutschen zusammen. Der Vortrag stellt Praktiken der deutschen Sprache, des Spracherwerbs, sprachenpolitische Aktivitäten und Identitätskonstruktionen vor. Es zeigt sich, dass es oft vom Zufall abhängt, ob Familientraditionen wiederbelebt werden oder ob Deutsch als „Adoptivsprache“ angesehen wird. Dies lässt letztlich eine Neukonzeptualisierung traditioneller Minderheitensprachen in einem Land wie Lettland sowie ein Überdenken ihrer Rolle im Bildungswesen sinnvoll erscheinen.