Gibt es neben dem „historic turn“ und dem „cultural turn“ auch einen „transcultural turn“, um den komplexen Verflechtungen unserer globalisierten (Musik-)Welt gerechter zu werden? Anknüpfend an Theorien von Fernando Ortiz und Wolfgang Welsch möchten wir transkulturelle Musiktheorie als Chance begreifen, historische oder auch kulturspezifische Phänomene nicht vorrangig isoliert zu betrachten, sondern auf das Gemeinsame, Verbindende zu schauen, so wie es auch Kofi Agawu 2022 in der ersten GMTH International Music Theory Lecture anregte. Zu einer Zeit, in der Abgrenzungsversuche zwischen vermeintlich inkompatiblen Kulturen zunehmend im Widerspruch zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen stehen, wird das Verständnis der Vielschichtigkeit soziokultureller Zugehörigkeitsgefühle und Praktiken immer wichtiger. Die Auseinandersetzung mit Musik verschiedener Weltregionen und ihrer mannigfaltigen Überlappungen bereichert letztlich auch unser Verständnis, und das unserer Studierenden, für das jeweils „eigene“ (Kern)repertoire und mag, in Anlehnung an Humboldts „Methode des weltweiten Vergleichens und In-Beziehung-Setzens“, gleichzeitig zu einer „selbstkritischen Hinterfragung eigener, kulturell geprägter Forschungsansätze im Kontext jeweils spezifischer Kulturen des Wissens“ führen (Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung).
Pinto: Musikalische Transkulturation. Einige Thesen und Erfahrungen
Der Begriff musikalischer Transkulturation kam Anfang der 1970er Jahre in die (Ost-)Berliner Musikwissenschaft und geht auf den im vom kubanischen Sozialwissenschaftler Fernando Ortiz geprägten Begriff der transculturación zurück, den er 1940 in die kubanische Historiografie, lange vor der Debatte um Transkulturalität hierzulande, einbrachte. Im spanischsprachigen Raum ist der Begriff seither etabliert. Der neuere Weimarer Schwerpunkt in musikalischer Transkulturation, ab 2009, knüpft an die Theorie von Ortiz an. Entscheidend bei Transkulturation ist, dass sie das dichotome Verhältnis von Eigenem und Fremden aufhebt, da bei diesem theoretischen Ansatz nicht Differenzen im Vordergrund stehen, die gegeneinander ausgespielt, sondern jene Aspekte bekräftigt werden, die trotz und in Anerkennung von Differenzen, kreative Verbindungen ermöglichen und Neues schaffen. Im Gespräch mit dem kubanischen Musikwissenschaftler Olavo Alén Rodrigues sollen einzelne Erfahrungen aus den Weimarer Transcultural Music Studies vorgestellt werden, die Bereiche der Musiktheorie, aber auch der Musikpädagogik und Komposition miteinschließen.
Safari: Von den wesentlichen Veränderungen der musikalischen Verzierung
Persische Teppichknüpferei, europäische Rokokogärten, japanische Kumiko-Patterns oder Michelin-Restaurants weltweit: diese Beispiele tragen einen Wunsch in sich, der auch die Musik als Zeit- und Raumkunst prägt: den Wunsch nach Ornamentieren. Trotz der Vertrautheit des Verzierens bleibt die Frage, inwieweit man in der Gegenwartsmusik, samt aller ästhetischen Richtungen, überhaupt von Verzieren sprechen kann. Kann man von einer „Theorie“ der Ornamentation als Teil einer transkulturellen Musikkultur sprechen, einer Theorie, die sich nicht auf lineare Gestaltung beschränkt, sondern die „wesentlichen Veränderungen“ der Zeit im engeren (Notation und Ausführung) und im weiteren Sinne (technischen Entwicklungen, Mikrotonalität bis zum „acoustic ornament“) widerspiegelt? Vielleicht ist Verzieren das musikalische Phänomen, das die Musik am breitesten nicht nur als Zeitkunst präsentiert, sondern sie vielmehr als Raumkunst in den Vordergrund stellt.
Schönlau: Transkulturelle Bezüge ostinater Akkordfolgen in südafrikanischer Popmusik
In der RATM-Sonderausgabe Can we talk of a passacaglia principle? schreibt Susanna Pasticci etwas pointiert, die europäische Musik sei von zwei grundlegenden strukturellen Prinzipien geprägt: des Sonatenprinzips und des Ostinatoprinzips. Obwohl die sich oftmals auf die drei Hauptfunktionen der Dur-Moll-Tonalität beschränkenden ostinaten Akkordfolgen, die vielen südafrikanischen Songs zugrunde liegen, ihren Ursprung zweifelsohne in der Verbreitung christlicher Religion und Musik (auch durch deutsche Missionare) sowie dem damit vermittelten Kulturimperialismus haben, zeugt deren anhaltende Verwendung auch von einer Widerständigkeit, die sich in der Verbindung von „europäischer“ Harmonik und „afrikanischen“ strukturellen Prinzipien zeigt, einer Verbindung, die letztlich der Apartheidsdoktrin der „separate development“ zuwider lief. Eine Analyse und Thematisierung dieses Repertoires erlaubt es auch uns Lehrenden, uns mit der eigenen Kolonialgeschichte und der damit verbundenen Verantwortung auseinanderzusetzen und dieses Bewusstsein an Studierende weiterzugeben.
Mohagheghi-Fard:
An zahlreichen Musikhochschulen wächst das Bestreben, Musikkulturen, die nicht dem etablierten Kanon angehören, in das Curriculum zu integrieren. Dies geschieht durch Seminare zu diesen Themen sowie durch Einbindung transkultureller Musik in traditionelle Fächer wie Höranalyse, Musiktheorie und Gehörbildung. Die Integration in die musiktheoretischen Fächer kann auf drei Arten erfolgen: erstens durch Bereicherung des akustischen Erfahrungsschatzes durch nicht-kanonische Musik; zweitens durch detaillierte Erforschung einer spezifischen Musikkultur und ihrer Systeme, sei es auf der Makroebene des Gesamtsystems oder durch Mikroanalysen einzelner Musikstücke; drittens durch Anwendung pädagogischer Methoden aus anderen Musikkulturen zur Vermittlung entsprechender musikalischer Fertigkeiten. Im Vortrag werde ich über eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet, besonders im Hinblick auf klassische persische Musik und Volksmusik Irans berichten und die sich bietenden Möglichkeiten diskutieren.