Matthis Lussys und Hugo Riemanns Rhythmustheorien und ihr Einfluss auf rhythmusbewegte Musiktheorie um 1900
Maria Hector
Um 1900 ist Rhythmus ein Schlüsselbegriff in ästhetischen und pädagogischen Diskursen. Innerhalb der Musikpädagogik trägt insbesondere die rhythmisch-gymnastische Methode des Schweizer Musiktheoretikers und -pädagogen Émile Jacques-Dalcroze wesentlich zur Popularisierung des umgewerteten Begriffes bei. Im Zentrum des Musikverständnisses, welches Jacques-Dalcroze vertrat, steht die Auffassung, dass Rhythmus in erster Linie ein Bewegungsphänomen ist, das sich im Akt der sinnlichen Wahrnehmung vollzieht. Neben Jacques-Dalcroze und anderen Musikpädagogen stellten jedoch auch eine ganze Gruppe von rhythmusbewegten Musiktheoretikern ähnliche Konzepte in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Die Idee, dass Musik psychische Bewegung sei, wurde am konsequentesten von dem Schweizer Musiktheoretiker Ernst Kurth entwickelt.
In meinem Vortrag will ich der Frage nachgehen, auf welche musiktheoretischen Systeme Jacques-Dalcroze und Kurth konkret zurückgreifen. Ein Blick in die Quellenverzeichnisse von Kurths Schriften zeigt, dass der Musiktheoretiker Hugo Riemann am häufigsten zitiert wird. Ttatsächlich ist Riemann der erste im deutschsprachigen Raum, der musikalischen Rhythmus als psychisches Phänomen auffasst (Bayreuther 2016, S. 154). Weniger bekannt dürfte sein, dass Riemann wesentliche Anstöße zu seiner Rhythmustheorie durch Schriften des französischen Theoretikers Matthis Lussy erhalten hat. Letzterer wird wiederum in Jacques-Dalcrozes Schriften als einzige Quelle namentlich ausgewiesen.
Anhand derjenigen Originalschriften, die sich mit Rhythmus befassen, will ich zeigen, (i) auf welche Weise Lussy und Riemann musikalischen Rhythmus in die Psyche des wahrnehmenden Subjekts verlegen und damit eine spezifische Ausdruckstheorie des Rhythmus begründen; (ii) welche Rolle die Hörerfahrungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts dabei spielen; (iii) und welche Möglichkeiten sich dadurch für Jacques-Dalcroze und Kurth eröffnen, Rhythmus und Musik als Bewegung zu definieren.
Literatur
Rainer Bayreuther: “Die Rhythmusbewegung Im Frühen 20. Jahrhundert Und Ihre Grundlegung in Der
Empirischen Ästhetik.” Die Musikforschung 69, no. 2 (2016): S. 143–56
Émile Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, Wolfenbüttel 1944
Ernst Kurth: Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts: Einführung in Stil und Technik von Bachs
melodischer Polyphonie, Berlin 1916
Ernst Kurth: Musikpsychologie, Berlin 1931
Matthis Lussy: Traité de léxpression musicale – accents, nuances et mouvements, Paris 1874
Hugo Riemann: System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903