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Sitzungsübersicht
Sitzung
Künstlerische Forschung I
Zeit:
Samstag, 23.09.2023:
11:30 - 13:30

Chair der Sitzung: Ariane Jeßulat
Ort: Kammermusiksaal


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Präsentationen
11:30 - 12:00

Künstlerische Forschung – forschende Kunst? Grundsatzüberlegungen zu einer hybriden Konstruktion aus fachlich musiktheoretischer Sicht

Kilian Sprau

Universität der Künste Berlin, Deutschland

Betrachtet man das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst als „Beziehung“ zwischen zwei systemischen Kommunikationszusammenhängen (vgl. Weidner 2015), erweist sich artistic research als Hybridkonstruktion, angesiedelt in einer spannungsvollen Lage. Ihre Position „auf der Systemgrenze“ (Sprau 2021) birgt Chancen und Risiken: Als interdisziplinäre Betätigung kann künstlerische Forschung wechselseitige Anregungen zwischen verschiedenen fachlichen Bereichen fördern und, im Fall ihres Gelingens, fruchtbar machen. Bei Misslingen droht ihr eine Art staatenloser Existenz zwischen allen Stühlen oder das (Miss-)Verständnis, sie wolle Meriten aus dem Nachbargebiet gewissermaßen über die Grenze schmuggeln. Vielleicht sind die Vor- und Nachteile einer solchen Konstruktion aus fachlich-musiktheoretischer Sicht besonders gut nachzuvollziehen: Die Zuschreibung, „nicht Kunst, nicht Wissenschaft“ zu sein (Holtmeier 1997) und doch an beidem zu partizipieren, ist für die Musiktheorie immanenter Teil ihrer Fachgeschichte. Möglicherweise bieten deshalb die Strukturen musiktheoretischer Ausbildung und Lehrpraxis Antworten auf die Frage, wie sich Forschung und Lehre im Bereich der artistic research sinnvoll in akademische Curricula einbinden lassen. Umgekehrt könnten Fragestellungen, die im Bereich der künstlerischen Forschung derzeit bearbeitet werden, der Musiktheorie inhaltliche Impulse für ihre eigene künftige Fachentwicklung geben.

Der Vortrag spielt diese Überlegungen in drei Schritten durch. Erstens richtet er einen Blick auf die grundsätzlichen Herausforderungen interdisziplinärer Aktivität, speziell die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wo Kommunikation ‚über Systemgrenzen hinweg‘ erwartet wird. Zweitens nennt er ausgewählte Projekte aus dem Bereich der musikalischen Interpretationsforschung als Beispiele für akademische Zusammenhänge, in denen künstlerische und wissenschaftliche Aktivitäten faktisch miteinander in Wechselwirkung treten. Drittens skizziert er Ideen zur Frage, wie interdisziplinäre Projekte im Bereich künstlerischer Forschung mit musiktheoretischen Anteilen beschaffen sein müssen, wenn systemisch bedingte Verständigungsprobleme zwischen den einzelnen Bereichen theoretisch reflektiert und methodisch berücksichtigt sein sollen.

Zitierte Literatur: V. Weidner, „Musikpädagogik und Musiktheorie. Systemtheoretische Beobachtungen einer problematischen Beziehung“, Münster 2015 / K. Sprau, „Auf der Systemgrenze. Artistic research zwischen Kunst und Wissenschaft“, musiconn.kontrovers, 27.8.2021 / L. Holtmeier, „Nicht Kunst? Nicht Wissenschaft? Zur Lage der Musiktheorie“, Musik & Ästhetik 1/1–2 (1997), 119–136



12:00 - 12:30

Gottfried Weber performen: Einen Kunstversuch »Ueber eine besonders merkwürdige Stelle in einem Mozart'schen Violinquartett aus C«

Anne Hameister1, Oliver Mathes2, Amelie Lopper1, Sangjin Han1

1Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Deutschland; 2Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland

Wenn die Musiktheorie einer Musik ihre Analyse zumutet, scheint es angebracht, umgekehrt einer Analyse auch eine Aufführung zuzumuten. Analyse (ἀνάλυσις) bedeutet ursprünglich »Auflösung, Zergliederung«, Performanz, von per formare, verweist hingegen auf den Gedanken des Zusammenfügens oder Ausbildens. Dieser Beitrag möchte das Verhältnis von Analyse und Kunst anhand eines ›klassischen‹ Beispiels durchspielen und Gottfried Webers Analyse des Beginns von Mozarts Dissonanzenquartett als Performance auf die Bühne bringen. In sprachlich markierter Weise inszeniert Weber seinen Analysetext als Erlebnis, bei dem der:die Leser:in verführt zu werden scheint, der uneindeutigen Klangsituation von Mozarts Beginn Gehör zu schenken (vgl. Fischer-Lichte 1998).

Wir befragen den musiktheoretischen Text im Close Reading als künstlerischen Gegenstand hinsichtlich dramaturgischer Hinweise. Das Gehör als Protagonist geht bei Weber auf der Suche nach Erkenntnis mehrfach durch die Anfangstakte und kann sich in der musikalischen Zeit und im musikalischen Raum multiperspektivisch bewegen (vgl. Moreno 2008 sowie Utz 2013). Sein Handlungsspielraum bleibt jedoch eingeschränkt. Es stellt Fragen, zweifelt und hat Entscheidungsoptionen. Gleichzeitig wird es aber auch von der Musik gereizt, befremdet und in die Irre geführt. Im Transformationsprozess für die Performance ist es uns ein Anliegen, die Diskursivität, die Webers analytischen Beobachtungen innewohnt, zum Vorschein zu bringen.

In interdisziplinärer Zusammenarbeit mit einer Musikdramaturgiestudentin und einem Regiestudenten werden Webers Regieanweisungen offengelegt und in eine Perfomance gebracht. Beim Kongress wird das künstlerische Ergebnis aufgeführt.

Ein essentieller Bestandteil ist neben der inhaltlichen Arbeit die Selbstreflexion als Musiktheoretiker:innen im Arbeitsprozess mit dem Text. Wie verändert sich der alltagsgewisse musiktheoretisch-analytische Zugang in der Konfrontation mit künstlerischen Fragen und Prozessen? Inwieweit führen wir Musikstücke auf, wenn wir eine Analyse im Unterrichtskontext kollaborativ (er)proben? Welche Macht- und Autoritätsverhältnisse wirken in einer Analyse?

Ein reflektierender Begleittext wird zur Verfügung gestellt, es ist jedoch kein mündlicher Vortragsteil vorgesehen. In der anschließenden Diskussion können Fragen an die Musiktheorie sowie Dramaturgie und Regie gerichtet werden.



12:30 - 13:30

Musiktheorie als Inbegriff künstlerischer Forschung

Bert Mooiman

Royal Conservatoire, The Hague, Niederlande

Was für eine Art Wissen wird durch Artistic Research generiert? Das ist eine wesentliche und zugleich eine der faszinierendsten Fragen zu diesem Thema. Henk Borgdorff (2012) zufolge ist es Ziel und Aufgabe künstlerischer Forschung, nicht-konzeptionelle Formen des Wissens und Verstehens zu „artikulieren, verstärken, kontextualisieren und durchdenken“. Was die Musik betrifft, sieht er die musikalische Analyse dagegen als ein Beispiel eines „verbal-diskursiven Ansatzes“ bei dem die Musik aus einer bestimmten theoretischen Distanz betrachtet wird – und damit eines eher traditionellen geisteswissenschaftlichen Programms. Tatsächlich findet man auf Plattformen wie dem Research Catalogue oder dem Journal of Artistic Research nur wenige musiktheoretische Beiträge.

In diesem Vortrag möchte ich aber argumentieren dass diese Sichtweise alte Vorurteile über die Musiktheorie bestätigt; in Wirklichkeit hat die musikalische Analyse, oder die Musiktheorie im Allgemeinen, bestimmt auch eine künstlerische Seite. Man könnte sogar sagen dass Musiktheorie-treiben eine Art von Musik-machen ist – womit die Musiktheorie geradezu zum Inbegriff musikalischen Artistic Researchs würde.

Eine Anerkennung dieses Potentials würde unserem Fachgebiet sicherlich gewisse organisatorische und finanzielle Vorteile bieten. Wichtiger und interessanter ist aber die Frage, wie das Artistic Research die Musiktheorie mit seiner Aufgabenstellung bereichern könnte. Die Idee, abstrakte musiktheoretische Begriffe seien nur als Annäherung an eine nicht-konzeptuelle musikalische Wirklichkeit zu verstehen, bietet die Möglichkeit dieser Frage nachzugehen. Da solche Begriffe meistens zeitliche Vorgänge andeuten, führt ihre Vermittlung im Unterricht häufig zu einer problematischen Reifizierung. In diesem Lecture-Recital werde ich anhand kleiner Klavierimprovisationen zeigen, wie (zum Beispiel) schon der Begriff „Kadenz“ weit mehr umfasst als er anzudeuten vermag. Hierbei geht es nicht um die Definition einer allgemein bekannten harmonischen Kategorie, sondern vielmehr darum, wie dieser Begriff bei der Kreation von Musik als „Erfindungs-Quelle“ (Mattheson) fungieren kann. Denn beschäftigt die Musiktheorie sich nicht auch mit der Poiesis, der Frage, wie Musik gemacht wird? Was all dies impliziert, lässt sich nur schwer in Worten ausdrücken – es handelt sich schließlich um wissenschaftlich noch weitgehend unerschlossenes Erfahrungswissen, das man mit gutem Recht als nicht-konzeptuell bezeichnen kann.

Borgdorff, H. (2012) ‘The production of knowledge in Artistic Research’, in: M.Biggs und H.Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London: Routledge, 44-63.



 
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