Veranstaltungsprogramm

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Sitzungsübersicht
Sitzung
S3_2_1.318: Vortragssymposium Medizin und Wissenschaft
Zeit:
Mittwoch, 20.09.2023:
8:30 - 10:30

Chair der Sitzung: Dr. Elvira Schmidt
Ort: 1.318

Gebäude 1, dritter Stock

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Präsentationen

Medizin und Wissenschaft

Chair(s): Elvira Schmidt (Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland)

Diskutant*in(nen): Kerstin Kremer (Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland)

Während der Covid-19-Pandemie wurden Prozesse medizinscher Forschung zwischen WissenschaftlerInnen und Öffentlichkeit diskutiert. In dieser Debatte wurde deutlich, dass medizinische und gesundheitsrelevante Prozesse der Meinungsbildung neben wissenschaftlichen Erkenntnissen von persönlichen Faktoren, wie Emotionen und Überzeugungen beeinflusst werden. Nicht selten führte dies zu Missverständnissen zwischen WissenschaftlerInnen und Öffentlichkeit (vgl. Bogner, 2021) und zu Unsicherheiten in der Gesellschaft.

Für die Förderung einer reflektierten Entscheidungsfindung hinsichtlich medizinischer Fragestellungen im Rahmen der Gesundheitsförderung ist demnach eine wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit Medizin sowohl in Bezug auf das Wissenschaftsverständnis (Nature of Science) als auch unter Berücksichtigung individueller Befindlichkeiten unerlässlich (vgl. Heering & Kremer, 2018: Schmidt, 2020).

Moderne Medizin ist eine evidenzbasierte Wissenschaft, die sowohl Erkenntnisse durch randomisierte kontrollierte Studien gewinnt als auch individuelle Bedürfnisse von PatientInnen berücksichtigt sowie ethische Standards umsetzt (vgl. Haynes, Deveraux & Guyuatt, 2002). In der Auseinandersetzung mit medizinischen Themen im Rahmen der Gesundheitsförderung (vgl. Arnold et al., 2020; Sørensen et al., 2012) schließen die Prozesse der selbstbestimmten Meinungs- und Entscheidungsfindung an die Förderung der Bewertungskompetenz an (vgl. Zeyer und Kyburz-Graber, 2012). Jedoch ist in diesem Zusammenhang die Rolle individueller Vorerfahrungen, Emotionen, Einstellungen sowie die Wahrnehmung und der Umgang mit Unsicherheiten in Bezug auf medizinische Fragestellungen (z.B. Impfungen, Antibiotikaresistenzen) der Lernenden erst wenig beforscht und somit für die Unterrichtsentwicklung oder Lehrerbildung kaum systematisch nutzbar gemacht (vgl. Zeyer, 2022).

Das Symposium bündelt Beiträge, die sich dem Spannungsfeld zwischen Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft im Lichte der Herausforderungen einer Gesundheitsförderung und Health Literacy der heutigen Zeit widmen. Dabei werden der Prozess der Meinungsbildung zu medizinischen Fragestellungen sowie die Diagnose und Förderung der Determinanten zur Entscheidungsfindung (u.a. Umgang mit Unsicherheiten) anhand ausgewählter inhaltlicher Kontexte (Impfen, Antibiotika) im Hinblick auf den Biologieunterricht und die Lehramtsausbildung herausgearbeitet und diskutiert. Ferner wird der Frage nachgegangen, welche Rolle die Auseinandersetzung mit medizinischer Forschung für die Gesundheitsförderung und Health Literacy spielen kann.

 

Beiträge des Symposiums

 

Mit Computersimulationen zu medizinischen Themen das Verständnis von Unsicherheit und Risiko diagnostizieren und den Umgang mit ihnen fördern

Simon Blauza1, Kerstin Kremer2, Benedikt Heuckmann1
1Westfälische Wilhelms-Universität (WWU) Münster, 2Justus-Liebig-Universität Gießen

Computersimulationen wurden bislang häufig als Visualisierungswerkzeuge im naturwissenschaftlichen Unterricht eingesetzt, obwohl sie als dynamische Modelle auch als Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung genutzt werden können. Um die wissenschaftliche Qualität von Simulationen und die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen beurteilen zu können, sind neben inhaltsbezogenen Kompetenzen epistemische Kompetenzen im Bereich von Nature of Science (NOS) notwendig. Zwei wichtige, aber bislang unterrepräsentierte Aspekte sind hierbei das Verständnis von Unsicherheit und Risiko sowie der kompetente Umgang mit ihnen. In der Literatur werden Unsicherheit und Risiko als vielfältige Konstrukte verstanden. So lassen sich u. a. epistemische, ontologische und aleatorische Unsicherheit sowie ein realistisches und konstruktivistisches Paradigma der Risikowahrnehmung unterscheiden. Eine Differenzierung ist hier notwendig, da der Umgang mit Unsicherheit und Risiko je nach Differenzierung unterschiedliche Strategien einfordert. Das Verständnis von Risiko und Unsicherheit sowie der kompetente Umgang von Lernenden mit ihnen wurde im Kontext von Simulationen bislang wenig erforscht. Im Beitrag werden zwei explorative

Interviewstudien vorgestellt, die einen Beitrag zu dieser Forschungslücke leisten sollen. Dabei nutzten Schüler*innen (n=5) in der ersten Studie eine Computersimulation zum Gemeinschaftsschutz der Masernimpfung, während Studierende (n=12) in der zweiten Studie eine Computersimulation zum Infektionsgeschehen bei COVID-19 in Innenräumen verwendeten. Die Teilnehmenden wurden angeleitet, die Funktionen der Simulationen zu erkunden, bevor sie leitfadengestützt zu ihrem Verständnis von Risiko und Unsicherheit befragt wurden. Die offenen Antworten wurden mittels induktiv und deduktiv generierter Kategorien softwaregestützt mit MAXQDA inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten meist ein naives und alltägliches Verständnis von Unsicherheit und Risiko haben. Unsicherheit wird von Schüler*innen wie Studierenden primär als persönliche Unsicherheit verstanden, während das Risikoverständnis insbesondere der Studierenden verschiedenen Paradigmen zugeordnet werden kann. Der Beitrag diskutiert anhand der empirischen Daten das Potential von Computersimulationen, das Verständnis von Risiko und Unsicherheit zu diagnostizieren und zu fördern.

 

Diskursorientiertes Framing als Tool zur Bewusstseinsbildung bei Schüler:innen zum Thema Antibiotikaresistenzen

Hildrun Walter, Heide Beranek-Knauer, Lucas Eder, Helmut Jungwirth
Karl-Franzens-Universität, Graz, Österreich

Ein dringliches Thema in der Medizin ist die Erhaltung antibiotischer Behandlungsmöglichkeiten, die durch die starke Zunahme von Antibiotikaresistenzen bei pathogenen Mikroorganismen bedroht ist. Bildungsprogramme sollten daher nicht nur auf eine naturwissenschaftliche Vermittlung des Themas abzielen, sondern auch die gesellschaftliche Relevanz verdeutlichen.

In dieser Längsschnittstudie wurde untersucht, welchen Einfluss ein diskursgesteuertes Framing eines außerschulischen Laborkurses, das auch individuelle und gesellschaftliche Aspekte berücksichtigt, auf das Interesse, die Motivation und die Emotionen der Kursteilnehmer:innen, als auch auf die Breite der thematischen Wahrnehmung von Antibiotikaresistenz hat.

Zwei Gruppen wurden dabei miteinander verglichen: Die eine erhielt eine flexible Kurseinführung, die durch eine aktive Diskussion in Kleingruppen gesteuert wurde – ein diskursgesteuertes Framing (DDF: discourse-directed framing). Die andere erhielt eine von den Kursleiter:innen gestaltete Einführung (IDF: instructor-directed framing). Die Evaluation erfolgte mit drei publizierten Instrumenten zur Messung der Einstellung zu Wissenschaft (BRAINS, Summers & Abd-El-Khalick, 2018), der Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Wertes (MATS, Hillman, Zeeman, Tilburg, & List, 2016), des Interesses und der Emotionen der Teilnehmer:innen und der Selbstwahrnehmung ihrer situativen Kompetenzen (Itzek-Greulich & Vollmer, 2017). Im Follow-Up wurden mit Mindmaps zusätzlich die mit Antibiotika assoziierten Begriffe abgefragt.

An der Studie nahmen 260 Schüler:innen teil. Im Gegensatz zur IDF-Gruppe, zeigte die DDF-Gruppe im Prä-Post-Vergleich eine signifikant höhere Einschätzung des gesellschaftlichen Wertes der Wissenschaft (MATS). In den Mindmaps nannte die DDF-Gruppe signifikant mehr Themen als die IDF-Gruppe. Darüber hinaus zeigte sich, dass der praktische Laborkurs in beiden Gruppen das Interesse, die Motivation und die Emotionen der Kursteilnehmer:innen signifikant steigerte, wobei jedoch keine Veränderungen in der Einstellung zur Wissenschaft (BRAINS) festgestellt werden konnten.

Diese Studie zeigt, dass allein ein Framing von zehn Minuten, die Wahrnehmung komplexer Themen auch über einen längeren Zeitraum beeinflussen kann. Das Diskutieren anhand thematischer Fragen in kleinen Gruppen kann zu einer umfassenderen Wahrnehmung von Antibiotikaresistenzen, einschließlich gesellschaftlicher und persönlicher Implikationen, führen.

 

Unsicherheit und Strategien zum Umgang damit – Schüler*innenvorstellungen zum Thema Impfen

Julia Arnold1, Albert Zeyer2
1Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, 2Pädagogische Hochschule Luzern

Die Gesundheitsbildung hat das Ziel, Lernende in die Lage zu versetzen, informierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen. Bei der Entscheidungsfindung spielen neben motivationalen Faktoren auch das Wissen bzw. die Vorstellungen über naturwissenschaftliche Erkenntnisse und deren Gewinnung eine Rolle. Die Entscheidungen werden jedoch unter mehr oder weniger großer Unsicherheit getroffen. Dewulf und Biesbroek (2018) schlagen eine Systematisierung von Unsicherheit in der Entscheidungsfindung vor und unterscheiden drei Gegenstandskategorien der Unsicherheit und drei Arten von Unsicherheit. Je nach Art der Unsicherheit können unterschiedliche Strategien herangezogen werden, um die Unsicherheit zu reduzieren.

In der Studie wurde die Kategorisierung der Unsicherheit für den Themenbereich Impfen adaptiert und eine Befragung bei Schweizer Lernenden durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Argumente der Lernenden lediglich auf die epistemisch-inhaltliche, die ontologisch-inhaltliche, die strategisch-ontologische sowie die epistemisch-institutionelle Ebenen beziehen. Es zeigt sich auch, dass innerhalb der jeweiligen Kategorien unterschiedliche Strategien subjektiv sinnvoll erscheinen - objektiv jedoch anders beurteilt werden können.

Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen, wie Lernende Unsicherheiten wahrnehmen und welche Strategien sie erwägen. Künftig sollten ausgehend von den Vorstellungen von Lernenden adäquate Strategien zum Umgang mit Unsicherheit entwickelt und geprüft werden. Das Three-Talk Model kann dabei als Ausgangspunkt für die Vermittlung dienen.

 

Two-Eyed Seeing: Eine Möglichkeit, medizinische Themen holistisch in den naturwissenschaftlichen Unterricht zu integrieren.

Albert Zeyer
Pädagogische Hochschule Luzern

Themen der Gesundheit und Medizin sollten einerseits wissenschaftlich und andererseits ganzheitlich betrachtet werden. Der Ansatz des wissenschaftlichen Holismus, welcher in der ESERA Special Interest Group Science|Environment|Health vorgeschlagen wurde, versucht diesem Anliegen Rechnung zu tragen. Er ist inspiriert von Sellars Philosophie und dem verwandten Ansatz des Two-Eyed Seeing, welches im kanadischen naturwissenschaftlichen Unterricht mit indigenen Studierenden aus den Gesundheitswissenschaften übernommen wurde. Im vorliegenden Beitrag wird der Ansatz in einem partizipativen Forschungsdesign mit zukünftigen Naturwissenschaftslehrpersonen erprobt und weiterentwickelt. Die Studierenden nutzen das Two-Eyed Seeing als didaktische Heuristik um Miniaturen (eine spezielle Form von Microteaching) vorzubereiten, durchzuführen und zu evaluieren. Insbesondere sollte untersucht werden, ob der Ansatz zu einer vermehrten Integration von gesundheitlichen und medizinischen Fragestellungen führen würde. Es zeigte sich, dass 15 von 23 Gruppen die Themen Gesundheit, Medizin und Umweltgesundheit nutzten, um einen lebensweltlichen Bezug zu gestalten. Gesundheitsbezogene und medizinische Themen wurden also von den Lehramtsstudierenden auf ungezwungene Weise aufgenommen und die wissenschaftlichen Aspekte dieser Themen spontan und natürlich integriert. Indem die Studierenden darauf bedacht waren, den vollen Zyklus des Two-Eyed Seeing in ihrer Miniatur umzusetzen, strukturierten sie diese in einer Weise, die sehr and an das Three-Talk Model aus dem Bereich des Shared Decision-Making in der Medizin erinnert. Die didaktische Heuristik des Two-Eeyd Seeing scheint also in der Tat das Gleichgewicht zwischen einem holistischen und einem wissenschaftlichen Zugang zu Science|Environment|Health zu unterstützen. Das Modell kann von allgemeinem Interesse für Naturwissenschaftslehrpersonen und Forscher*innen sein, um naturwissenschaftlichen Unterricht einerseits in Bezug auf Argumentation und wissenschaftliche Praktiken sowie andererseits Identitätsentwicklung und lebensweltlichen Diskurs zu (re-)konstruieren, durchzuführen und zu bewerten, zwei der in letzter Zeit international am meist beforschten Anliegen der naturwissenschaftlichen Bildung.



 
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