EINLEITUNG
Wie planen Kinder komplexe Bewegungen, die es ihnen ermöglichen, sicher auf eine Leiter zu klettern? Oder wie treffen Fußballtalente unter Zeitdruck richtige Entscheidungen?
Diese und ähnliche Fragen zur motorisch-kognitiven Entwicklung sind in Alltag, Schule und Leistungssport relevant. Mein Forschungsprogramm greift sie systematisch auf, um ein tieferes Verständnis der Entwicklungsdynamiken von Motorik und Kognition zu gewinnen. In Kindergärten, Schulen und Sportvereinen werden Kinder nach chronologischem Alter gefördert. Daher ist es zentral, zu verstehen, wie sich motorische und kognitive Prozesse entwickeln, interagieren und mit Leistung sowie Gesundheit zusammenhängen (Hill et al., 2024). Motorische und kognitive Prozesse werden in der Talententwicklung im Leistungssport berücksichtigt (z. B. Zentgraf & Raab, 2023), anspruchsvolle, kombinierte motorisch-kognitive Übungen können in der Schule zur Förderung schulischer Leistungsentwicklung (z. B. Schmidt et al., 2017) und im Gesundheitskontext (z. B. Rehakliniken, Altersheimen) zur Förderung und zum Erhalt der funktionalen Gesundheit genutzt werden (Hill et al., 2024). Indem mein Forschungsprogramm die Entwicklungsdynamiken von motorisch-kognitiven Prozessen als zentrales Bindeglied zwischen Bewegung, Kognition und Entwicklung in sportlichen Kontexten beleuchtet, leistet es einen gesellschaftlich relevanten Beitrag zur interdisziplinären Profilbildung der Sportwissenschaft.
Mein übergeordnetes Forschungsziel ist, zu verstehen, welchen Entwicklungsdynamiken die Interaktion von Motorik und Kognition bei komplexen, sportlichen Handlungen unterliegt, d. h. wie sich diese Prozesse entwickeln, sich gegenseitig beeinflussen und trainierbar sind. An der Schnittstelle von Bewegungswissenschaft, Kognitions- und Entwicklungspsychologie, ist meine Forschung durch einen experimentellen Forschungsansatz und die Integration von kognitiven und biomechanischen Methoden gekennzeichnet (Maselli et al., 2025; Musculus et al., 2025). Außerdem werden methodisch-technologische Innovationen (interaktive Kletterwand/Bewegungsanalyse: Musculus et al., 2025; 360° Videotechnologie: Musculus, Bäder et al., 2021; Soccerbot: Musculus et al., 2022; Knöbel et al., 2024) genutzt, um komplexe sportliche Handlungen zu erklären.
Für mein Forschungsprogramm zur Erklärung und Erforschung von motorisch-kognitiven Entscheidungs- (z. B. Musculus et al., 2019) und Planungsprozessen (z. B. Musculus et al., 2025) im Sport ist eine integrative Embodied Cognition Perspektive leitend. Insbesondere nehme ich eine Developmental Embodied Cognition Perspektive ein (vgl. Adolph & Hoch, 2019; Lux et al., 2021), die motorisch-kognitive Interaktion nicht nur beschreibt, sondern ihre Entwicklungsdynamik theoretisch spezifiziert, vorhersagt und empirisch testet (Michirev et al., 2021; Musculus, Ruggeri, et al., 2021; Musculus, Tünte, et al., 2021).
Zur Systematisierung meiner Forschung habe ich ein theoretisches Rahmenmodell entwickelt (Musculus & Raab, 2022), das mein Forschungsprogramm in drei Dimensionen (I-III) strukturiert: Angesichts der konkreten Forschungsfrage bezogen auf motorische und kognitive Entwicklung im/durch Sport kann im ersten Schritt unterschieden werden, ob das Phänomen, das untersucht wird, theoretisch als eher I) motorisch, motorisch-kognitiv, oder eher kognitiv konzeptualisiert werden sollte. Diese theoretische Einordnung bestimmt die methodische Herangehensweise und Operationalisierung. Kognitive Entscheidungsprozesse werden mit videobasierten Tests mit zeitlicher Okklusion erfasst (Musculus, 2018; Musculus et al., 2019), die durch 360°- und VR-Technologien in realitätsnähere Paradigmen weiterentwickelt wurden (Musculus, Bäder et al., 2021). Werden motorische Komponenten stärker integriert – etwa in Paradigmen zu Entscheidungen im Handball (Hinz et al., 2022) und Planung im Klettern (Maselli et al., 2025; Musculus et al., 2024) – werden zusätzlich motorische Prozesse per Bewegungsanalyse erfasst. Die theoretische Idee ist, dass z. B. die motorische Fertigkeit wie gut ich im Handball werfe, beeinflusst, wie ich mich entscheide – ein kontinuierlicher Feedbackloop zwischen motorischen und kognitiven Prozessen.
Weiterhin können motorische und kognitive Prozesse als II) generell (domänenunabhängig) oder sportspezifisch konzeptualisiert und erfasst werden. Diese Unterscheidung ist theoretisch und praktisch relevant, wie in unserer Meta-Analyse zur Rolle von Kognition im Sport theoretisch eingeführt und diskutiert wird (Kalén et al., 2021). Zur theoretischen Weiterentwicklung sehe ich die Betrachtung des Zusammenhangs von generellen und sportspezifischen kognitiven (Heisler et al., 2023; Knöbel et al., 2024; Musculus et al., 2022) und motorisch-kognitiven Prozessen als gewinnbringend an. Der experimentelle Fokus liegt jedoch auf motorisch-kognitiven Planungsprozessen im Klettern (DFG-Projekt). Um motorisch-kognitive Planungsprozesse messbar zu machen, habe ich ein kletterspezifisches Planungsparadigma entwickelt (Musculus et al., 2025). Verwendet werden kognitive (Reaktionszeiten) und kinematische Maße, die räumliche (Geometric-Index-of-Entropy) und zeitliche (Immobility-to-Mobility-Ratio) Bewegungsflüssigkeit quantifizieren (Vicon Nexus; Musculus et al., 2025). In einem Erpertisevergleich zu Planungsprozessen im Klettern zeigten Analysen der Ganzkörperkinematik (stPCA), dass sich die Handlungsplanung der Gruppen unterscheidet: Noviz:innen planen Bewegungen unmittelbar vorher, Expert:innen dagegen früher und abhängig von Folgegriffen (Maselli et al., 2025).
Im letzten Schritt werden die Forschungsfragen entsprechend einer III) ganzheitlichen sportpsychologischen Entwicklungsperspektive eingeordnet. Demnach können Fragestellungen auf 1) altersspezifische Interaktionen/Effekte auf, 2) altersspezifisches Lernen/Trainierbarkeit von und 3) die Leistungsunterschiede/Expertise in motorischen und kognitiven Prozessen abzielen. Immer wieder stellt sich in verschiedenen Sportkontexten die Frage, ob bestimmte motorisch-kognitive Prozesse in einem bestimmten Alter besser gelernt oder trainiert werden können. Altersspezifische Effekte von motorischem, kognitivem und kombiniertem motorisch-kognitivem Planungstraining im Klettern für Kinder von 6 bis 12 Jahren, haben wir in einer groß angelegten, randomisiert-kontrollierten Trainingsstudie über 8 Wochen untersucht (N = 177). Insbesondere das kombinierte Training zeigte positive Effekte – vor allem bei 9- bis 12-Jährigen (Musculus et al., in prep.; OSF-Präregistrierung: https://doi.org/10.17605/OSF.IO/YVZ8J). Auf altersspezifischer und individueller Trainierbarkeit liegt der Fokus auch im WVL-Projekt „in:prove“ (BISp). Dieses Verbundprojekt erlaubt sowohl generelle (z. B. motorische Inhibition, kognitive Inhibition) als auch sportspezifische motorisch-kognitive Prozesse (z. B. Entscheidungsprozesse) zu diagnostizieren und darauf basierend individuell zu trainieren. Ergebnisse der interdisziplinären sportwissenschaftlichen Diagnostik mit 296 deutschen Kaderathlet:innen aus acht verschiedenen Disziplinen zeigte, dass Athlet:innen individuell sehr unterschiedliche Profile von Muskelkraft, Unterkörperdynamik, genetischen Indikatoren für Muskelkraft, Mikronährstoffgehalt, kognitiven Basisfunktionen, mentaler Gesundheit, sozialer Unterstützung und Trainingsbedingungen aufweisen. Im Mittel wurde deutlich, dass neben einem ausgeglichenen Mikronährstoffgehalt im Blut, insbesondere die motorische sowie die kognitive Leistungsfähigkeit entscheidende Faktoren für sportliche Expertise sind und unterstreichen deren Bedeutung in unterschiedlichen Disziplinen (Zentgraf et al., 2024).
Über die exemplarisch dargestellten empirischen Befunde hinaus liefert mein Forschungsprogramm theoretisch fundierte, empirische Ergebnisse zur Erklärung motorisch-kognitiver Entwicklungsdynamiken im und durch Sport. Diese Erkenntnisse sind sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die angewandte Trainingssteuerung und Bewegungsförderung von hoher Relevanz. Somit trägt mein Forschungsprogramm zur theoretisch-methodischen Weiterentwicklung des Forschungsfelds bei und informiert evidenzbasierte Fördermaßnahmen in der Praxis. Kinder entsprechend gezielt, altersgerecht motorisch-kognitiv zu fördern begünstigt die Entwicklung von Leistung und Gesundheit in verschiedenen Sportkontexten – vom sicheren Klettern auf dem Spielplatz, über bewegte Schul-Pausen bis hin zur richtigen Entscheidung im entscheidenden Bundesligaspiel.
LITERATUR
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Hill, P. J., McNarry, M. A., Mackintosh, K. A., Murray, M. A., Pesce, C., Valentini, N. C., Getchell, N., Tomporowski, P. D., Robinson, L. E., & Barnett, L. M. (2024). The influence of motor competence on broader aspects of health: A systematic review of the longitudinal associations between motor competence and cognitive and social-emotional outcomes. Sports Medicine, 54(2), 231–249. https://doi.org/10.1007/s40279-023-01939-5
Kalén, A., Bisagno, E., Musculus, L., Raab, M., Pérez-Ferreirós, A., Williams, A. M., Araújo, D., Lindwall, M., & Ivarsson, A. (2021). The role of domain-specific and domain-general cognitive functions and skills in sports performance: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 147(12), 1290–1308. https://doi.org/10.1037/bul0000355
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Maselli, A., Musculus, L., Moretti, R., Avella, A., Raab, M., & Pezzulo, G. (2025). Whole-body coarticulation reflects expertise in sport climbing. bioRxiv. https://doi.org/10.1101/2025.01.10.632403
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Musculus, L., Lautenbach, F., Knöbel, S., Reinhard, M. L., Weigel, P., Gatzmaga, N., Borchert, A., & Pelka, M. (2022). An assist for cognitive diagnostics in soccer: Two valid tasks measuring inhibition and cognitive flexibility in a soccer-specific setting with a soccer-specific motor response. Frontiers in Psychology, 13, 867849. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.867849
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Musculus, L., Tünte, M. R., Raab, M., & Kayhan, E. (2021). An embodied cognition perspective on the role of interoception in the development of the minimal self. Frontiers in Psychology, 12, 716950. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.716950
Schmidt, M., Egger, F., Benzing, V., Jäger, K., Conzelmann, A., Roebers, C. M., & Pesce, C. (2017). Disentangling the relationship between children’s motor ability, executive function and academic achievement. PLOS ONE, 12(8), e0182845. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0182845
Zentgraf, K., Musculus, L., Reichert, L., Will, L., Roffler, A., Hacker, S., Hilpisch, C., Wiedenbrüg, K., Cermak, N., Lenz, C., de Haan, H., Mutz, M., Wiese, L., Al-Ghezi, A., Raab, M., & Krüger, K. (2024). Advocating individual-based profiles of elite athletes to capture the multifactorial nature of elite sports performance. Scientific Reports, 14, 26351. https://doi.org/10.1038/s41598-024-76977-8
Zentgraf, K., & Raab, M. (2023). Excellence and expert performance in sports: What do we know and where are we going? International Journal of Sport and Exercise Psychology, 21(1), 1–21. https://doi.org/10.1080/1612197X.2023.2229362