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Die momentane Konferenzzeit ist: 14. Sept. 2025 20:33:06 MESZ

 
 
SitzungsĂĽbersicht
Sitzung
dvs-PostDoc-Vorlesung: Dr. Lisa Musculus und Dr. Johannes MĂĽller
Zeit:
Donnerstag, 18.09.2025:
16:45 - 18:00

Chair der Sitzung: Uli Fehr, Universität Bayreuth / dvs
Ort: Raum MĂĽnchen (H1)

Schlossplatz 46 806 Plätze

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Präsentationen

Dynamiken der motorisch-kognitiven Entwicklung im und durch Sport

Musculus, Lisa

Deutsche Sporthochschule Köln, Deutschland

EINLEITUNG

Wie planen Kinder komplexe Bewegungen, die es ihnen ermöglichen, sicher auf eine Leiter zu klettern? Oder wie treffen Fußballtalente unter Zeitdruck richtige Entscheidungen?

Diese und ähnliche Fragen zur motorisch-kognitiven Entwicklung sind in Alltag, Schule und Leistungssport relevant. Mein Forschungsprogramm greift sie systematisch auf, um ein tieferes Verständnis der Entwicklungsdynamiken von Motorik und Kognition zu gewinnen. In Kindergärten, Schulen und Sportvereinen werden Kinder nach chronologischem Alter gefördert. Daher ist es zentral, zu verstehen, wie sich motorische und kognitive Prozesse entwickeln, interagieren und mit Leistung sowie Gesundheit zusammenhängen (Hill et al., 2024). Motorische und kognitive Prozesse werden in der Talententwicklung im Leistungssport berücksichtigt (z. B. Zentgraf & Raab, 2023), anspruchsvolle, kombinierte motorisch-kognitive Übungen können in der Schule zur Förderung schulischer Leistungsentwicklung (z. B. Schmidt et al., 2017) und im Gesundheitskontext (z. B. Rehakliniken, Altersheimen) zur Förderung und zum Erhalt der funktionalen Gesundheit genutzt werden (Hill et al., 2024). Indem mein Forschungsprogramm die Entwicklungsdynamiken von motorisch-kognitiven Prozessen als zentrales Bindeglied zwischen Bewegung, Kognition und Entwicklung in sportlichen Kontexten beleuchtet, leistet es einen gesellschaftlich relevanten Beitrag zur interdisziplinären Profilbildung der Sportwissenschaft.

Mein übergeordnetes Forschungsziel ist, zu verstehen, welchen Entwicklungsdynamiken die Interaktion von Motorik und Kognition bei komplexen, sportlichen Handlungen unterliegt, d. h. wie sich diese Prozesse entwickeln, sich gegenseitig beeinflussen und trainierbar sind. An der Schnittstelle von Bewegungswissenschaft, Kognitions- und Entwicklungspsychologie, ist meine Forschung durch einen experimentellen Forschungsansatz und die Integration von kognitiven und biomechanischen Methoden gekennzeichnet (Maselli et al., 2025; Musculus et al., 2025). Außerdem werden methodisch-technologische Innovationen (interaktive Kletterwand/Bewegungsanalyse: Musculus et al., 2025; 360° Videotechnologie: Musculus, Bäder et al., 2021; Soccerbot: Musculus et al., 2022; Knöbel et al., 2024) genutzt, um komplexe sportliche Handlungen zu erklären.

Für mein Forschungsprogramm zur Erklärung und Erforschung von motorisch-kognitiven Entscheidungs- (z. B. Musculus et al., 2019) und Planungsprozessen (z. B. Musculus et al., 2025) im Sport ist eine integrative Embodied Cognition Perspektive leitend. Insbesondere nehme ich eine Developmental Embodied Cognition Perspektive ein (vgl. Adolph & Hoch, 2019; Lux et al., 2021), die motorisch-kognitive Interaktion nicht nur beschreibt, sondern ihre Entwicklungsdynamik theoretisch spezifiziert, vorhersagt und empirisch testet (Michirev et al., 2021; Musculus, Ruggeri, et al., 2021; Musculus, Tünte, et al., 2021).

Zur Systematisierung meiner Forschung habe ich ein theoretisches Rahmenmodell entwickelt (Musculus & Raab, 2022), das mein Forschungsprogramm in drei Dimensionen (I-III) strukturiert: Angesichts der konkreten Forschungsfrage bezogen auf motorische und kognitive Entwicklung im/durch Sport kann im ersten Schritt unterschieden werden, ob das Phänomen, das untersucht wird, theoretisch als eher I) motorisch, motorisch-kognitiv, oder eher kognitiv konzeptualisiert werden sollte. Diese theoretische Einordnung bestimmt die methodische Herangehensweise und Operationalisierung. Kognitive Entscheidungsprozesse werden mit videobasierten Tests mit zeitlicher Okklusion erfasst (Musculus, 2018; Musculus et al., 2019), die durch 360°- und VR-Technologien in realitätsnähere Paradigmen weiterentwickelt wurden (Musculus, Bäder et al., 2021). Werden motorische Komponenten stärker integriert – etwa in Paradigmen zu Entscheidungen im Handball (Hinz et al., 2022) und Planung im Klettern (Maselli et al., 2025; Musculus et al., 2024) – werden zusätzlich motorische Prozesse per Bewegungsanalyse erfasst. Die theoretische Idee ist, dass z. B. die motorische Fertigkeit wie gut ich im Handball werfe, beeinflusst, wie ich mich entscheide – ein kontinuierlicher Feedbackloop zwischen motorischen und kognitiven Prozessen.

Weiterhin können motorische und kognitive Prozesse als II) generell (domänenunabhängig) oder sportspezifisch konzeptualisiert und erfasst werden. Diese Unterscheidung ist theoretisch und praktisch relevant, wie in unserer Meta-Analyse zur Rolle von Kognition im Sport theoretisch eingeführt und diskutiert wird (Kalén et al., 2021). Zur theoretischen Weiterentwicklung sehe ich die Betrachtung des Zusammenhangs von generellen und sportspezifischen kognitiven (Heisler et al., 2023; Knöbel et al., 2024; Musculus et al., 2022) und motorisch-kognitiven Prozessen als gewinnbringend an. Der experimentelle Fokus liegt jedoch auf motorisch-kognitiven Planungsprozessen im Klettern (DFG-Projekt). Um motorisch-kognitive Planungsprozesse messbar zu machen, habe ich ein kletterspezifisches Planungsparadigma entwickelt (Musculus et al., 2025). Verwendet werden kognitive (Reaktionszeiten) und kinematische Maße, die räumliche (Geometric-Index-of-Entropy) und zeitliche (Immobility-to-Mobility-Ratio) Bewegungsflüssigkeit quantifizieren (Vicon Nexus; Musculus et al., 2025). In einem Erpertisevergleich zu Planungsprozessen im Klettern zeigten Analysen der Ganzkörperkinematik (stPCA), dass sich die Handlungsplanung der Gruppen unterscheidet: Noviz:innen planen Bewegungen unmittelbar vorher, Expert:innen dagegen früher und abhängig von Folgegriffen (Maselli et al., 2025).

Im letzten Schritt werden die Forschungsfragen entsprechend einer III) ganzheitlichen sportpsychologischen Entwicklungsperspektive eingeordnet. Demnach können Fragestellungen auf 1) altersspezifische Interaktionen/Effekte auf, 2) altersspezifisches Lernen/Trainierbarkeit von und 3) die Leistungsunterschiede/Expertise in motorischen und kognitiven Prozessen abzielen. Immer wieder stellt sich in verschiedenen Sportkontexten die Frage, ob bestimmte motorisch-kognitive Prozesse in einem bestimmten Alter besser gelernt oder trainiert werden können. Altersspezifische Effekte von motorischem, kognitivem und kombiniertem motorisch-kognitivem Planungstraining im Klettern für Kinder von 6 bis 12 Jahren, haben wir in einer groß angelegten, randomisiert-kontrollierten Trainingsstudie über 8 Wochen untersucht (N = 177). Insbesondere das kombinierte Training zeigte positive Effekte – vor allem bei 9- bis 12-Jährigen (Musculus et al., in prep.; OSF-Präregistrierung: https://doi.org/10.17605/OSF.IO/YVZ8J). Auf altersspezifischer und individueller Trainierbarkeit liegt der Fokus auch im WVL-Projekt „in:prove“ (BISp). Dieses Verbundprojekt erlaubt sowohl generelle (z. B. motorische Inhibition, kognitive Inhibition) als auch sportspezifische motorisch-kognitive Prozesse (z. B. Entscheidungsprozesse) zu diagnostizieren und darauf basierend individuell zu trainieren. Ergebnisse der interdisziplinären sportwissenschaftlichen Diagnostik mit 296 deutschen Kaderathlet:innen aus acht verschiedenen Disziplinen zeigte, dass Athlet:innen individuell sehr unterschiedliche Profile von Muskelkraft, Unterkörperdynamik, genetischen Indikatoren für Muskelkraft, Mikronährstoffgehalt, kognitiven Basisfunktionen, mentaler Gesundheit, sozialer Unterstützung und Trainingsbedingungen aufweisen. Im Mittel wurde deutlich, dass neben einem ausgeglichenen Mikronährstoffgehalt im Blut, insbesondere die motorische sowie die kognitive Leistungsfähigkeit entscheidende Faktoren für sportliche Expertise sind und unterstreichen deren Bedeutung in unterschiedlichen Disziplinen (Zentgraf et al., 2024).

Über die exemplarisch dargestellten empirischen Befunde hinaus liefert mein Forschungsprogramm theoretisch fundierte, empirische Ergebnisse zur Erklärung motorisch-kognitiver Entwicklungsdynamiken im und durch Sport. Diese Erkenntnisse sind sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die angewandte Trainingssteuerung und Bewegungsförderung von hoher Relevanz. Somit trägt mein Forschungsprogramm zur theoretisch-methodischen Weiterentwicklung des Forschungsfelds bei und informiert evidenzbasierte Fördermaßnahmen in der Praxis. Kinder entsprechend gezielt, altersgerecht motorisch-kognitiv zu fördern begünstigt die Entwicklung von Leistung und Gesundheit in verschiedenen Sportkontexten – vom sicheren Klettern auf dem Spielplatz, über bewegte Schul-Pausen bis hin zur richtigen Entscheidung im entscheidenden Bundesligaspiel.

LITERATUR

Adolph, K. E., & Hoch, J. E. (2019). Motor development: Embodied, embedded, enculturated, and enabling. Annual Review of Psychology, 70, 141–164. https://doi.org/10.1146/annurevpsych-010418-102836

Heisler, S. M., Lobinger, B. H., & Musculus, L. (2023). A developmental perspective on decision making in young soccer players: The role of executive functions. Psychology of Sport and Exercise, 65, 102362. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2022.102362

Hill, P. J., McNarry, M. A., Mackintosh, K. A., Murray, M. A., Pesce, C., Valentini, N. C., Getchell, N., Tomporowski, P. D., Robinson, L. E., & Barnett, L. M. (2024). The influence of motor competence on broader aspects of health: A systematic review of the longitudinal associations between motor competence and cognitive and social-emotional outcomes. Sports Medicine, 54(2), 231–249. https://doi.org/10.1007/s40279-023-01939-5

Kalén, A., Bisagno, E., Musculus, L., Raab, M., Pérez-Ferreirós, A., Williams, A. M., Araújo, D., Lindwall, M., & Ivarsson, A. (2021). The role of domain-specific and domain-general cognitive functions and skills in sports performance: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 147(12), 1290–1308. https://doi.org/10.1037/bul0000355

Knöbel, S., Borchert, A., Gatzmaga, N., Heilmann, F., Musculus, L., Laborde, S., & Lautenbach, F. (2024). The impact of soccer-specific psychophysiological stress on inhibition and cognitive flexibility in elite youth players. Psychology of Sport and Exercise, 74, 102682. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2024.102682

Lux, V., Non, A. L., Pexman, P. M., Stadler, W., Weber, L. A. E., & KrĂĽger, M. (2021). A developmental framework for embodiment research: The next step toward integrating concepts and methods. Frontiers in Systems Neuroscience, 15, 672740. https://doi.org/10.3389/fnsys.2021.672740

Maselli, A., Musculus, L., Moretti, R., Avella, A., Raab, M., & Pezzulo, G. (2025). Whole-body coarticulation reflects expertise in sport climbing. bioRxiv. https://doi.org/10.1101/2025.01.10.632403

Michirev, A., Musculus, L., & Raab, M. (2021). A developmental embodied choice perspective explains the development of numerical choices. Frontiers in Psychology, 12, 694750. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.694750

Musculus, L., Bäder, J., Sander, L., & Vogt, T. (2021). The influence of environmental constraints in 360° videos on decision making in soccer. Journal of Sport and Exercise Psychology, 43(5), 365–374. https://doi.org/10.1123/jsep.2020-0166

Musculus, L., Lautenbach, F., Knöbel, S., Reinhard, M. L., Weigel, P., Gatzmaga, N., Borchert, A., & Pelka, M. (2022). An assist for cognitive diagnostics in soccer: Two valid tasks measuring inhibition and cognitive flexibility in a soccer-specific setting with a soccer-specific motor response. Frontiers in Psychology, 13, 867849. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.867849

Musculus, L., Ruggeri, A., Juppen, L., & Raab, M. (2025). Theory-driven development of an embodied-planning paradigm: Integrating methods for advancing theory. Sport, Exercise, and Performance Psychology. https://doi.org/10.1037/spy0000356

Musculus, L., Ruggeri, A., & Raab, M. (2021). Movement matters! Understanding the developmental trajectory of embodied planning. Frontiers in Psychology, 12, 633100. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.633100

Musculus, L., Ruggeri, A., Raab, M., & Lobinger, B. H. (2019). A developmental perspective on option generation and selection. Developmental Psychology, 55(4), 745–753. https://doi.org/10.1037/dev0000665

Musculus, L., TĂĽnte, M. R., Raab, M., & Kayhan, E. (2021). An embodied cognition perspective on the role of interoception in the development of the minimal self. Frontiers in Psychology, 12, 716950. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.716950

Schmidt, M., Egger, F., Benzing, V., Jäger, K., Conzelmann, A., Roebers, C. M., & Pesce, C. (2017). Disentangling the relationship between children’s motor ability, executive function and academic achievement. PLOS ONE, 12(8), e0182845. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0182845

Zentgraf, K., Musculus, L., Reichert, L., Will, L., Roffler, A., Hacker, S., Hilpisch, C., WiedenbrĂĽg, K., Cermak, N., Lenz, C., de Haan, H., Mutz, M., Wiese, L., Al-Ghezi, A., Raab, M., & KrĂĽger, K. (2024). Advocating individual-based profiles of elite athletes to capture the multifactorial nature of elite sports performance. Scientific Reports, 14, 26351. https://doi.org/10.1038/s41598-024-76977-8

Zentgraf, K., & Raab, M. (2023). Excellence and expert performance in sports: What do we know and where are we going? International Journal of Sport and Exercise Psychology, 21(1), 1–21. https://doi.org/10.1080/1612197X.2023.2229362



Sport hinter Gittern. Ethnographische Forschung im Gefängnis

MĂĽller, Johannes

Universität Wien, Österreich

EINLEITUNG

Sport ist in allen Justizvollzugsgesetzen der Bundesländer verankert und fester Bestandteil des Vollzugsalltags. Den gesetzlichen Vorgaben entsprechend besteht für die Inhaftierten die Möglichkeit, während der frei verfügbaren Zeiten an angeleiteten Sportangeboten auf Außenanlagen, in Sporthallen oder Fitnessräumen der Anstalten teilzunehmen. Eine aktuelle Studie aus Hessen zeigt, dass rund die Hälfte der männlichen Inhaftierten regelmäßig die unterbreiteten Sportangebote im geschlossenen Vollzug wahrnimmt und rund zwei Drittel neben dem angeleiteten Sport auch selbst organisiert Sport treibt, z. B. im Haftraum oder in der Freistunde (Müller & Mutz, 2023). Vor dem Hintergrund, dass es an qualitativen Untersuchungen mangelt, die den Sport in Gefängnissen aus der Sicht der Inhaftierten rekonstruieren (vgl. Müller & Mutz, 2019), geht das Forschungsprojekt der übergeordneten Frage nach, wie inhaftierte Männer den Sport im Strafvollzug erfahren und welche Bedeutungen sie den Sport- und Bewegungsaktivitäten beimessen. Dieser Fragestellung untergeordnet ist die Frage, wie Gefangene die Haft und die damit vermutlich verbundenen Belastungen erfahren.

METHODE

Das Forschungsprojekt bedient sich eines ethnographischen Zugangs. Die Datenerhebung erfolgte mittels teilnehmender Beobachtungen über drei Jahre in einer deutschen Justizvollzugsanstalt (JVA) und 19 leitfadengestützter Interviews mit männlichen Strafgefangenen, die Haftstrafen im geschlossenen Vollzug zwischen 18 Monaten und 11 Jahren verbüßen. Die untersuchte JVA ist eine nach den neuesten Sicherheitsstandards konzipierte Vollzugseinrichtung mit einer Kapazität von 340 Haftplätzen. Die Rekrutierung von Interviewpartnern und die Umsetzung von Feldaufenthalten wurde mittels eines wöchentlichen Sportprojekts realisiert, das vom Forscher während der Datenerhebung durchgeführt wurde. Einzelne Gefangene wurden auch zu Sportveranstaltungen außerhalb der Haftanstalt begleitet und nach ihrer Entlassung aus dem geschlossenen Vollzug interviewt. Die Kombination aus Teilnahme, Beobachtung und Interview trägt zu einem umfassenden Verständnis der Sinngebungen bei, die der Sport im Gefängnis besitzt. Das umfangreiche Datenmaterial wurde nach dem Kodierverfahren der Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) ausgewertet.

ERGEBNISSE

Für die Insassen hat der Sport in Haft vielschichtige Bedeutungen, die teilweise in Zusammenhang mit den in der „totalen Institution“ (Goffman, 1973) erlebten „Schmerzen der Inhaftierung“ (Sykes, 1958) stehen (Müller, 2024a; 2024b):
1) Die Inhaftierung geht für die Gefangenen mit Gefühlen des Freiheitsverlusts einher und wird von ihnen als ein Leben unter Zwang wahrgenommen. Der Sport eröffnet ihnen dabei zahlreiche Gelegenheiten des Erlebens von physischer und mentaler Freiheit. Dementsprechend wird Sport zum Teil täglich betrieben, um Freiheitsmomente zu erleben, Handlungsautonomie wiederzuerlangen und sich gedanklich aus der totalen Institution zu befreien. In diesem Sinne erweist sich der Sport als eine eskapistische Erlebniswelt und Insel der Freiheit (Müller, 2024b).
2) Die Inhaftierung wird von den Gefangenen als räumliche und soziale Isolation erlebt, mit der Folge, dass Vereinsamungsgefühle ihren Alltag prägen. Dabei zeigt das Datenmaterial, dass vor allem der anstaltsorganisierte Sport für die Insassen ein Mittel gegen Einsamkeit und eine Brücke zur Außenwelt darstellt.
3) Trotz der in deutschen Haftanstalten bestehenden Arbeitspflicht lässt sich feststellen, dass Gefühle von Langeweile das Leben im Gefängnis prägen. Der Sport wird dabei von den Insassen als Ablenkung und gegenwartserfüllender Zeitvertreib erlebt, sodass dieser ein wirkungsvoller „Zeitfresser“ und probates Gegenmittel zur empfundenen Monotonie und Langeweile ist.
4) Die Inhaftierten nehmen das Gefängnis als einen gefährlichen Ort wahr, an dem Angst und Unsicherheit vor körperlichen Übergriffen weit verbreitet sind. Vor allem Kraftsport wird von Inhaftierten zum Teil exzessiv betrieben, weil der so erarbeitete muskulöse Körper Signal und Symbol der Wehrhaftigkeit und Kampfbereitschaft ist. Dabei nimmt der muskuläre Körper hinter Gittern einerseits eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung von Gewalt ein, andererseits minimiert er aber auch die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden. Er ist sowohl Machtinstrument als auch Schutz vor Viktimisierung (Müller & Mutz, 2022).
5) Das Gefängnis erweist sich für die Gefangenen als eine männlichkeitsgefährdende Institution. Vor diesem Hintergrund wird der Sport von den Inhaftierten als Bühne zur Inszenierung männlicher Dominanz und als Stabilisator ihrer bedrohten Männlichkeit funktionalisiert – auch, weil der im Rahmen des Kraftsports erarbeitete muskuläre Körper Männlichkeitsträger und Verteidigungsinstrument männlicher Identität zugleich ist.
6) Die Inhaftierung wird von den Insassen typischerweise als emotional belastend erlebt. Belastungsfaktoren sind u. a. das soziale Umfeld, die totalitäre Struktur der Institution, der Gefängniskontext und die Gedanken an die Außenwelt. Die Daten zeigen dabei, dass sich der Sport für die Insassen als Möglichkeit erweist, temporär die haftimmanenten Belastungen bzw. Sorgen zu vergessen und aus negativen Gedankenspiralen, in denen viele Inhaftierte gefangen sind, auszubrechen.
7) Die Insassen erfahren die Inhaftierung als stigmatisierend und selbstwertschwächend. In diesem besonderen Kontext kann der Sport unter bestimmten Voraussetzungen eine Quelle für selbstwertstärkende Erfahrungen darstellen, an denen es vielen Gefangenen in der totalen Institution grundsätzlich mangelt. Ursächlich dafür ist die besondere Struktur des anstaltsorganisierten Sports, die der Struktur des Vereinssports in vielerlei Hinsicht ähnelt. In der Folge fungiert der Sport für einen Teil der Insassen als selbstwertstärkender Identitätsmarker.

DISKUSSION

Aus den Befunden lässt sich schließen, dass der Sport für die Inhaftierten eine wichtige Haftbewältigungshilfe darstellt. Das Forschungsprojekt lässt erkennen, dass Sport in der Haft ganz andere Bedeutungsfacetten besitzt als außerhalb der Haft. Zudem wird deutlich, dass es nicht die Sinngebungen sind, die sich Gefängnisse wünschen, sondern ganz „eigensinnige“, die mit den Schmerzen und Entbehrungen des Gefangenseins zu tun haben. Die Befunde zeigen des Weiteren, dass inhaftierte Männer den Sport deutlich positiver wahrnehmen als inhaftierte Frauen, die im Sport teilweise interpersonelle und emotionale Spannungen erleben (Müller et al., 2025; Koddebusch et al., 2025). Im Vortrag werden ausgewählte Befunde aus dem Habilitationsprojekt vorgestellt, die in einer Monographie (Müller, 2024a) und in Zeitschriftenartikeln publiziert wurden (Müller, 2024b; Müller & Mutz, 2022).

LITERATUR

Goffman, E. (1973). Asyle. Ăśber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp.

Koddebusch, M., Gröben, B., Wicker, P. & Dransmann, M. (2025). Discontinuity and prison sickness: sport participation barriers and mental well-being effects among women in prison. International Journal of Prison Health. https://doi.org/10.1108/IJOPH-01-2025-0007

MĂĽller, J., Norman, M., Meek, R. & Mutz, M. (2025). How incarcerated women experience sport in prison: A systematic review of qualitative studies. International Review for the Sociology of Sport. https://doi.org/10.1177/10126902251331630

Müller, J. (2024a). Sport in der totalen Institution – eine Gefängnisethnographie. Springer VS.

Müller, J. (2024b). „For those few minutes you are free“: The meaning of sport from imprisoned men’s perspective. International Review for the Sociology of Sport, 59(4), 598–616.

Müller, J. & Mutz, M. (2023). Sport und Gesundheit im hessischen Strafvollzug. Abschlussbericht. Justus-Liebig-Universität Gießen.

Müller, J. & Mutz, M. (2022). Pumping Iron for strength and power: Prisoners’ perceptions of a stable body. Qualitative Research in Sport, Exercise and Health, 14(7), 1159–1173.

Müller, J. & Mutz, M. (2019). Sport im Strafvollzug aus der Perspektive der Inhaftierten: Ein systematisches Review qualitativer Forschungsarbeiten. Sport und Gesellschaft, 16, 181–207.

Strauss, A. L. & Corbin, J. (1996). Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz.

Sykes, G. M. (1958). The society of captives: A study of a maximum security prison. Princeton University Press.