Entgrenzte Bildungsprozesse – zur Vulnerabilität von Biographien im Kontext von Flucht und Migration
Chair(s): Prof. Dr. Juliane Engel (Goethe Universität Frankfurt, Deutschland), Prof. Dr. Bettina Fritzsche (PH Freiburg)
Diskutant*innen: Prof. Dr. Christine Riegel (PH Freiburg)
Das internationale und interdisziplinäre Symposium geht empirisch und bildungstheoretisch der Frage nach, wie sich Biographien im Kontext von Flucht und Migration als entgrenzte und entgrenzende Bildungserfahrungen untersuchen lassen. Hierzu wird der Begriff der Vulnerabilität aus vier Perspektiven für erziehungswissenschaftliche Diskussionen fruchtbar gemacht: Unter Bezug auf die (Un-)Möglichkeit des (biographischen) Sprechens für Subjekte, die in Ländern des globalen Nordens als flucht*migriert sind, im Blick auf Praktiken der separierenden Platzierung in Schule und Unterricht, auf der Grundlage einer Analyse von Elternengagement und schließlich am Beispiel von Artikulationen von Sprache und Differenz in schulischen Kontexten Deutschlands und Österreichs.
Beiträge des Panels
„Flüchtling“ werden. Subjektivierungstheoretische Überlegungen zu den Grenzen von (Biographie-) Forschung im Kontext von Flucht*Migration
Prof. Dr. Nadine Rose, Dominik Schütte
Universität Bremen
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage nach der (Un-)Möglichkeit des (biographischen) Sprechens für Subjekte, die in Ländern des globalen Nordens als flucht*migriert markiert werden. Dabei werden empirische Ergebnisse diskutiert, die den einschränkenden wie ermöglichenden Konsequenzen der (Be-)Sprechbarkeit erzeugenden Flüchtlingskategorisierung nachgeht. Aufgrund der Prekarität wie Vulnerabilität der (sprachlichen) Anwesenheit flucht*migrierter Subjekte, wird ihnen ein, an ein hegemonial-dominanzgesellschaftliches (Rommelspacher 1998) Sprechen angelehntes, Sprechen (über sich selbst und ihre Biographie) zugemutet, das von einem Netz von Formationsregeln und Äußerungsmodalitäten geprägt ist. Ihre Sprechakte sollen deshalb als Erwiderungen auf dominanzgesellschaftliche Anrufungen an ihre Biographien – als Erzählungen über sich selbst – verstanden werden. Die Wiederholung dieser Erwiderungen, so lässt die Analyse erkennen, bringt eine spezifische (Subjekt-)Erzählung hervor, die wir als „Legitimitäts- und Dankbarkeitserzählung“ lesen und auf der Basis des empirischen Materials nachzeichnen möchten. Die Erwiderungen verweisen dabei auf den doppelten Charakter der Subjektivierung: Auf der einen Seite müssen sich die Erzählungen dominanzgesellschaftlich akzeptierten Erzählcodes unterwerfen und auf der anderen Seite machen sie Platz für Verschiebungen, sie sind „almost the same, but not quite“ (Bhabha 1984, 127).
Biographie und Raum. Schulische Segregation als begrenzende Bildungserfahrung
Prof. Dr. Juliane Engel, Cristina Diz-Munoz
Goethe Universität Frankfurt
Der geplante Beitrag diskutiert empirische Ergebnisse eines drittmittelgeförderten Forschungsprojekts einer Exzellenzinitiative. Untersucht wurden (Bildungs-) Biographien (ehemaliger) Schüler*innen sogenannter „Türken- und Übergangsklassen“ in Bayern. Dabei soll nicht zuletzt der gesellschaftshistorische und -politische Kontext der sogenannten türkischen Arbeitsmigration in den Blick genommen und die (damals) alltäglich praktizierte Form der (räumlichen) Selbst- und Fremdverortung in Schule und Unterricht in ihren biographisierenden Potentialen präsentiert werden. So zeigen die videobasierten Analysen biographischer Interviews, dass wir es hier mit einer vulnerablen Gruppe zu tun haben. Praktiken der separierenden Platzierung sowie damit verbundene, verletzte Biografien im Kontext minorisierender und marginalisierender Zugehörigkeits(an-)ordnungen lassen sich empirisch rekonstruieren und bildungstheoretisch erfassen. Auf diese Weise werden Ansätze der relationalen Raum- und bildungsorientierten Biographieforschung auf neue Weise verbunden. Die Verschränkung von empirischen Daten (Fragebogenerhebungen, biografische Erzählungen, organisational bzw. kontextuelle Bedingungen der sog. „Türken- und Willkommensklassen“, videographic walks mit den ehemaligen Schüler*innen durch Schul- und Unterrichtsräume) erlauben einen differenzierten Blick auf ein bisher bildungsgeschichtlich wenig beachtetes Phänomen deutsch-türkischer Migrationsgeschichte und Gegenwart
Bildungsbiographien in Verhältnissen von (postkolonialen) Be- und Entgrenzungen – eine Fallanalyse zum Elternengagement im Schulkontext
Dr. Oxana Ivanova-Chessex1, Dr. Wiebke Scharathow2, Lalitha Chamakalayil3
1PH Zürich, 2PH Freiburg, 3FHNW, HSA
Eltern werden diskursiv zunehmend als Bildungsakteur*innen angesprochen. Ihre individuelle Leistungs- und Engagementbereitschaft gilt als eine wichtige Bedingung erfolgreicher Bildungsverläufe ihrer Kinder (vgl. Jergus, 2018, 2019). Im Kontext von Migrationsgesellschaft und Postkolonialität sind elterliche Vulnerabilitäten bezogen auf diese gesellschaftlichen Anrufungen ungleich verteilt. Wie können Eltern, deren Alltag durch Be- und Entgrenzungen strukturiert ist, sich für die Bildung ihrer Kinder engagieren und wie ist dieses Engagement biographisch verortet? Dem wird im vorliegenden Beitrag anhand der Rekonstruktion (vgl. Dausien, 2010; Rosenthal, 2011) eines biographischen Interviews (vgl. Schütze, 1983) mit einer Mutter nachgegangen. Mit der subjektivierungstheoretischen Perspektivierung (vgl. Butler, 2001, 2006) wird herausgearbeitet, wie elterliche Sprache – als Sprache der Kolonisierung wie auch als Sprache der Flucht – und elterliches Sprechen im Schweizer Schulkontext mit rassialisierten und (neo)-linguizistischen (vgl. Aygün-Sagdic et al., 2015; Dirim, 2010) Begründungsfolien als (il)legitim hervorgebracht und erfahren wird. Das elterliche Handeln an der Schnittstelle zwischen den biographischen Erfahrungen, elterlichen Ansprüchen und gesellschaftlichen Anrufungen rückt dabei in den analytischen Blick. Die Grundlage dieser Analysen sind Daten aus einem vom SNF geförderten Forschungsprojekts zu Eltern und Schule im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheiten.
„…wenn sie auf Kopf schlagen: ‚Nein du kannst nicht.‘“ Zur stickiness von Vulnerabilitätserfahrungen im schulischen Kontext
Natasha Khakpour
PH Freiburg
Stickiness ist mit Sara Ahmed, “an effect of the histories of contact between bodies, objects, and signs” (2004, S. 90), ein Resultat sich wiederholender, ideologisch-affektiv vermittelter, Erfahrung. In meinem Beitrag beziehe ich mich auf Ergebnisse meines, im Rahmen der HBS-Nachwuchsforschungsgruppe zu Bildungskontexten Flucht/Migration entstandenen, Dissertationsprojekts, dem die Analyse von Artikulationen von Sprache und Differenz in schulischen Kontexten Deutschlands und Österreichs zugrunde lag. Anhand von biographisch orientierten Interviews konnte die Bedeutsamkeit der Signifikationspraxis Deutsch-Können, wie sie sich in schulischen institutionalisierten Verfahren sowie in Interaktionen artikuliert, für (Selbst-)Bildungsprozesse rekonstruiert werden. Ziel des Konferenzbeitrags ist es, darauf aufliegend, zu einer vulnerabilitätssensiblen Lektüre biographischer Konstruktionen zu gelangen. Vulnerabilität wird hierbei als paradoxe Kategorie verstanden, der Verletzlichkeit, ebenso wie das Potenzial zur Entwicklung neuer Formen (kollektiver) Handlungsmacht inhärent sein können (Castro Varela/Dhawan 2016, S. 14). Der analytische Zugriff, der sich mit der Frage nach der „Klebrigkeit“, etwa von rassismusrelevanten Anrufungen (Rose 2012), verbindet, stellt deren affektive Dimension in den Vordergrund und erlaubt, so mein methodologischer Einsatz, eine nicht-essenzialisierende Perspektive auf Vulnerabilität und deren Erfahrung.