Sozialpädagogische Grenzbearbeitung – Zur Übersetzung einer Denkfigur
Chair(s): Prof. Dr. Fabian Kessl (Universität Wuppertal, Deutschland), Paula Achenbach (Universität Marburg, Deutschland), Prof. Dr. Susanne Maurer (Universität Marburg, Deutschland)
Diskutant*innen: Prof. Dr. Birgit Bütow (Universität Salzburg, Österreich), Prof. Dr. Catrin Heite (Universität Zürich, Schweiz)
Das Symposium will die Potenziale der – seit ca. 2005 in den Diskurs eingeführten - Denkfigur einer „(sozial)pädagogischen Grenzbearbeitung“ für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung und Forschung weiter profilieren. Mit dieser Denkfigur werden bestehende gesellschaftliche Verhältnisse als wirkmächtige Begrenzungen und Grenzsetzungen ebenso thematisiert wie die vielfältigen Versuche, diese zu problematisieren und zu überwinden. Dabei erfolgt eine gleichzeitige Inblicknahme struktureller Bedingungen des menschlichen Handelns im Allgemeinen, des (sozial)pädagogischen Tuns im Besonderen sowie der alltäglichen Bildungs- und Bewältigungspraxis der Menschen. Die Perspektive (sozial)pädagogischer Grenzbearbeitung präzisiert die damit verbundenen widersprüchlichen und konflikthaften Konstellationen, indem sie diese über ihre jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bezugspunkte konkretisiert. Exemplarisch zeigen dies die Vorträge des Symposiums theoretisch wie empirisch auf.
Beiträge des Panels
Die Pluralität von Grenzverständnissen: Ein Blick auf implizites Wissen von Mitarbeiter*innen in Bundespolizei, Aufenthaltsbehörden und Aufenthaltsberatungsstellen
Dr. Lisa Janotta
Universtität Rostock
Die deutsche Aufenthaltsordnung ist ein einheitlicher, bundesweit gültiger Rechtskorpus. Beim Thema Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht assoziiert man vor allem die territorialen Grenzen des Nationalstaats – und die Frage, wer sich darin aufhalten darf. Die homogenisierenden Vorstellungen von ‚der Nation‘ sind in globalisierungs- und migrationstheoretischer Perspektiven kritisch kommentiert worden. Doch wie sehen Grenzen, und wie die grenzüberschreitenden Migrant:innen, aus der Sicht derjenigen Grenzakteur:innen aus, die darüber befinden, wer da sein darf und wer gehen muss? Auf der Basis narrativer Interviews mit Mitarbeiter:innen in Bundespolizei, Ausländerbehörden und Aufenthaltsberatungsstellen konnte rekonstruiert werden, dass diese drei Berufsgruppen sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wer Non-Citizens ‚vor dem Aufenthaltsrecht‘ sind, wer wieso bleiben darf und wie mit Personen umgegangen werden kann, die ‚die Grenzen überschreiten‘. Das ist vor allem deshalb interessant, weil sich alle drei Berufsgruppen auf das gleiche Aufenthaltsrecht berufen. Im Beitrag wird die Pluralität der Grenzverständnisse skizziert und aufgezeigt, wie jede Berufsgruppe eigensinnig moralisierend mit Konfliktfällen umgeht. Abschließend wird danach gefragt, wie die Denkfigur der Grenzbearbeitung im Lichte der rekonstruierten Pluralität von Grenzverständnissen und Moralisierungen weiterentwickelt werden kann. Ein wichtiger Aspekt ist hier nicht zuletzt die Gestalt der Non-Citizens.
Grenzbearbeitung und (De-)Thematisierung – die Bearbeitung eines Spannungsverhältnisses
Bianca Bassler
PH Freiburg, Deutschland
Der Vortrag unternimmt den Versuch das Spannungsverhältnis von Thematisierung und Dethematisierung systematisch auf die Perspektive von Sozialer Arbeit als Konfliktorientierung (Schäuble 2020) zu beziehen. Den Ausgangspunkt dafür bildet die Beobachtung, dass das Nicht-Thematisieren von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen in der Praxis Sozialer Arbeit mit dem gleichzeitigen ‚Thematisieren‘ derselben einhergehen kann. Der Beitrag fragt hier nach dem „Wie“ und geht dabei von der These aus, dass ein ‚Dethematisieren’ besonders dann zu verzeichnen ist, wenn es um das Offenlegen von Konflikten geht. Thematisiert wird dann zwar eine (bestimmte) Perspektive auf einen Fall, das Konflikthafte daran bleibt letztlich aber unberührt. Vor diesem Hintergrund bedeutet ‚Dethematisierung’ Konfliktthemen wie Macht und Ungleichheit eben gerade nicht zu benennen und dadurch auch der Bearbeitung zu entziehen. Gezeigt wird dies anhand ethnographisch erhobenen Materials aus einem Promotionsprojekt zu Differenzkonstruktionen in der Kinder- und Jugendhilfe, in dem die Denkfigur der Grenzbearbeitung quasi ‚empirisch umgesetzt‘ worden ist. Reflektiert wird dabei auch, inwiefern diese Denkfigur in Einrichtungen der Sozialen Arbeit zur machtreflexiven Auseinandersetzung sowohl des eigenen Handelns wie auch institutioneller Strukturen beitragen kann. Nicht zuletzt wird im Beitrag verdeutlicht, wie die Denkfigur der Grenzbearbeitung als Reflexionsfigur für das eigene Forschen dienen kann.
Imaginationen des Körpers. Fotografische Selbstdarstellungen Jugendlicher und junger Erwachsener in digitalen sozialen Netzwerken als Formen der Grenzbearbeitung
Clarissa Schär
Universität Zürich, Schweiz
Im dritten Beitrag wird die Figur der Grenzbearbeitung im Kontext eines qualitativen Forschungsprojekts diskutiert, das sich mit fotografischen Selbstdarstellungen Jugendlicher und junger Erwachsener in digitalen sozialen Netzwerken als Form der Auseinandersetzung mit einer visuellen und ästhetisierten Gesellschaft beschäftigt. Die fotografischen Selbstdarstellungen werden dabei als ‚Imaginationen des Körpers‘ gefasst, weil sie nicht einfach Wiedergaben der Realität sind, sondern eher Konstruktionen von Neuem, die ‚real Vorhandenes‘ in einem ‚anderen Licht‘ präsentieren. Mit diesen Imaginationen des Körpers werden dabei unterschiedliche Grenzverhältnisse 'bedient', und auch neue erzeugt. Entlang von ‚Ordnungen der Differenz‘ erleben Jugendliche und junge Erwachsene zum Beispiel aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Behinderung Grenzen und Begrenzungen (vermittelt etwa über Körper-Normen), die sie imaginativ ‚erfüllen‘, ausloten und auch überschreiten. An diesen Grenzen zeigt sich die Auseinandersetzung mit Ambivalenzen und widersprüchlichen Anforderungen. Es werden aber auch neue Grenzen verhandelt, wie etwa die ‚Grenzen der Optimierung’ im Medium fotografischer Selbstdarstellungen. Die empirischen Befunde lassen sich bildungstheoretisch im Spannungsverhältnis von Subjektivierung (Ausgesetztheit) und Subjektivität (Ermöglichung von Eigensinn) lesen, und laden zur Reflexion von Pädagogik als Grenzbearbeiterin ein.
Körperleibliche Grenzverhältnisse. Überlegungen zum Intimen und zur Verletzbarkeit
Prof. Dr. Veronika Magyar-Haas
Universität Fribourg, Schweiz
Philosophische Analysen, welche sich – in Anlehnung an anthropologische und phänomenologische Perspektiven – mit den Grenzen des Körpers auseinandersetzen, betonen den Doppelcharakter der Grenze: Diese trenne ‚Innen‘ und ‚Außen‘ und öffne sie zugleich füreinander; die Grenzen des Körpers konstituierten sich im Sozialen, innerhalb räumlicher und zeitlicher Möglichkeiten (Krüger 2001: 269), und seien entsprechend plastisch und formbar. Wird der Körperleib jedoch sozialontologisch bestimmt, lässt er sich – durch seine Abhängigkeit von anderen und von sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen (Butler 2010) – wesentlich deutlicher in seiner Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit und Gefährdung betrachten und damit als Grenze konzeptualisieren (Brumlik 2002, 76). Im Beitrag wird der Figur des Körperleibs als Grenze systematisch nachgegangen und dabei in Bezugnahme auf das Phänomen des Intimen die Frage nach Ent-Grenzung gestellt, schließlich hebt das Intime durch die Öffnung für den Anderen die Trennung, die Grenze zu ihm auf (Jullien 2013). So wird diskutiert, mit welchen sozialpädagogischen, aber auch ethischen, politischen und sozialen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten die Konzipierung des Körperleibs als Grenze einhergeht und welche Bedeutung dabei dem Intimen zukommen mag.