Gymnasium und andere Wege zum Abitur – Begrenzungen und Entgrenzungsdynamiken im Migrationskontext
Chair(s): Dr. Dita Vogel (Universität Bremen), Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen)
Im deutschen Schulsystem erweist sich Bildungsteilhabe als in besonderem Maße abhängig von Herkunftssprache und Aufenthaltsperspektive, was sich u.a. in unterschiedlichen Schulabschlüssen spiegelt. In drei empirisch fundierten Beiträgen werden exemplarisch systemische Begrenzungen auf dem Weg zum Abitur als höchstem Schulabschluss nachgezeichnet: Institutionelle beim Zugang von im Schulalter Migrierten zum Gymnasium; curriculare durch enge Regelvorgaben für den Nachweis einer sogenannten ‚zweiten‘ Fremdsprache sowie didaktische am Beispiel diskursiver Aushandlungsprozesse in der Lehramtsausbildung. Diskutiert wird auch, welche Ansätze einen Beitrag zur Überwindung der Begrenzungen leisten. Ein abschließender internationaler Beitrag diskutiert den Ansatz theoretisch im Licht anti-rassistischer, polit-ökonomischer und linguizistischer Ansätze.
Beiträge des Panels
Zugang zum Gymnasium im Kontext von Migrationsbewegungen der 2010er Jahre: Institutionelle Begrenzungen und Entgrenzungsstrategien unterschiedlicher Akteure
B. Johanna Funck
Universität Bremen
Die Frage, wie im Sekundarschulalter Migrierte in die monolingual-deutschsprachig verfasste Schule einmünden, wirft vor dem Hintergrund des stratifizierten Sekundarsystems zugleich die Frage nach der Bildungsplatzierung auf.1 Bremen hatte flächendeckend an allen Sekundarschulen – auch den Gymnasien – Vorkurse eingerichtet. Um Wege ins Schulsystem zu erfassen wurden in einem Promotionsprojekt elf Interviews mit Eltern und Jugendlichen geführt, die zwischen 2012 und 2018 nach Bremen migriert sind und in unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Zonen2 gelangten. Wenige der Minderjährigen wurden von Anfang an auf einem Gymnasium platziert, andere sind zu einem späteren Zeitpunkt gewechselt. Durch Follow-Up Interviews mit Akteur*innen aus der Bildungsbehörde, Gymnasien, Beratungsstellen und Unterkünften wurden die Schulplatzierungsprozesse mehrperspektivisch untersucht. Die Analyse erfolgt mittels eines inhalts-, deutungs- und argumentationsanalytischen Ansatzes. Im Beitrag wird präsentiert, welche Faktoren den Zugang zu einem Gymnasium begünstigen oder verhindern können.
1Massumi, Mona (2019): Migration im Schulalter. Systemische Effekte der deutschen Schule und Bewältigungsprozesse migrierter Jugendlicher. Berlin
2Buckel, Sonja (2013): "Welcome to Europe"- die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das "Staatsprojekt Europa". Bielefeld
„Fremdsprachenunterricht“ - Curriculare Begrenzungen und Entgrenzungstendenzen
Dr. Dita Vogel
Universität Bremen
Wer in Deutschland Abitur machen will, muss eine „Fremdsprache“ ins Abitur einbringen und Unterricht in einer zweiten nachweisen. Nur in Ausnahmefällen kann die Belegpflicht durch den Nachweis von außerschulisch erworbenen Sprachkompetenzen ersetzt werden. Diese curriculare Vorgabe ignoriert weitgehend, dass viele Schüler*innen bereits mehrsprachig aufwachsen. Sie müssen die Angebote in Französisch, Latein und Spanisch wahrnehmen, auch wenn sie schon weitere Sprachen sprechen, die sie bestenfalls in einem Herkunftssprachenunterricht außerhalb der regulären Stundentafel pflegen können. Diese Begrenzungen werden zunehmend problematisiert und die Prüfung und Weiterentwicklung aller Sprachen vorgeschlagen1, wobei an bereits vorhandene entgrenzende Regelungen der Bundesländer wie Sprachprüfungen und Anerkennung des Herkunftssprachenunterrichts angeknüpft wird. Der Beitrag skizziert solche Regelungen auf der Basis einer Dokumentenanalyse im Überblick und resümiert den Stand der Debatte unter der Perspektive von Begrenzungen und Entgrenzungsdynamiken auf dem Weg zum Abitur.
1RfM (Hg.) (2021): Drei Sprachen sind genug fürs Abitur! Ein Reformvorschlag für den Abbau der Diskriminierung von mehrsprachig Aufgewachsenen bei Schulabschlüssen. Rat für Migration Debatte 2020. Redaktion Norbert Cyrus Linda Supik. Rat für Migration. Berlin
Das Verhandeln von Sprache im Kontext migrationsgesellschaftlicher Aushandlungsprozesse in der Lehramtsausbildung – Eine ent- und begrenzende Wissensproduktion
Deniz Barasi
Universität Bremen
Die monolinguale Ausrichtung von Schulen trägt zu einer geringeren Wertschätzung anderer Sprachen als Deutsch bei und begrenzt inhaltliche Zugänge in den verschiedenen Fächern.1 Die Universität reagiert mit der Vermittlung von sprachsensiblen Konzepten in den Fachdidaktiken und kritischen Perspektiven in den Erziehungswissenschaften. Im Diskurs dieser Lehrveranstaltungen wird zu sprachsensiblem Unterricht angeleitet sowie (vermeintliches) Wissen über als ‚Migrationsandere‘2 konstruierte Schüler*innen reflektiert, aber auch (re-)produziert. Im Rahmen eines rassismuskritisch ausgerichteten Promotionsprojekts wurden Lehrveranstaltungen der Erziehungswissenschaften und Physikdidaktik über zwei Semester teilnehmend beobachtet und durch Forschungsgespräche ergänzt. Die erhobenen Daten wurden im Sinne der Reflexiven Grounded Theory diskurskritisch analysiert. Der Beitrag skizziert diskursive Aushandlungsprozesse von Sprache sowie die damit verbundene Wissensproduktion über Migration und diskutiert, welche Be- und Entgrenzungen damit erzeugt werden.
1Dirim, İnci.; Khakpour, Natascha (2018): Migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in der Schule. In: İnci Dirim & Paul Mecheril (Hg.): Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Eine differenz- und diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn, S. 201-225
2Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim u.a
Anti-racist and political-economic perspectives on Entgrenzungen, language, and schooling
Prof. Dr. Jeff Bale
University of Toronto
This paper draws on critical anti-racist and political-economic perspectives to consider Entgrenzungen in two ways. “Removing barriers” implies change; this requires us to clarify our assumptions about what has to change and who has to change when boundaries are dissolved. A materialist, anti-racist approach to education policy1 re-frames structural changes as primarily a question of the distribution of material resources in society. As we discuss curricular or structural reforms to secondary schools, how do we assess whether these Entgrenzungen work to destabilize, and not reinscribe, social hierarchies based on race, language, migration status, etc. A raciolinguistic perspective2 on language in education3 challenges us to change expectations that users of minoritized languages learn to speak differently, and instead require that users of dominant languages learn to listen differently. The paper uses these theoretical perspectives to discuss the findings presented earlier in this session.
1Bale, J. (2016). In defense of language rights: Re-thinking the rights-orientation from a political economy perspective. Bilingual Research Journal, 39, 231–237
2Flores, N., & Rosa, J. (2015). Undoing appropriateness: Raciolinguistic ideologies and language diversity in education. Harvard Educational Review, 85, 149–171
3Rösch, H. (2019). Linguizismus(-kritik) in der Lehrkräftebildung. In Schmölzer-Eibinger et al. (Eds.), Mit Sprachen Grenzen überwinden (pp. 179–194). Münster