Migrationspädagogische Perspektiven auf den muttersprachlichen Unterricht
Chair(s): Prof. Dr. Marion Döll (PH Oberösterreich, Linz, Österreich), Prof. Dr. İnci Dirim (Universität Wien)
Diskutant*innen: Prof. Dr. Drorit Lengyel (Universität Hamburg), Dr. Erkan Gürsoy (Universität Duisburg-Essen)
Trotz der jahrzehntelangen Verankerung des mutter- bzw. herkunftssprachlichen Unterrichts in den Bildungssystemen der amtlich deutschsprachigen Länger und der bildungswissenschaftlichen Hinwendung zu sprachbezogenen Fragestellungen seit der Jahrtausendwende ist die Forschungslage zum herkunfts- bzw. muttersprachlichen Unterricht überaus lückenhaft. Anliegen der Arbeitsgruppe ist es, aktuelle Befunde und Diskurse zum Schulunterricht in migrantischen Sprachen in der BRD und in Österreich zu präsentieren und die Beiträge sowie den darüberhinausgehenden Forschungsstand aus migrationspädagogischer Perspektive kritisch zu diskutieren. Dabei sollen auch Fragen nach dem Wandel der Rolle mutter- bzw. herkunftssprachlicher Bildung im Zuge migrationsgesellschaftlicher Transformationen thematisiert und weiterführende Forschungsfragestellungen zum mutter- bzw. herkunftssprachlichen Unterricht in der (Trans-/Post-) Migrationsgesellschaft abgeleitet werden.
Beiträge des Panels
Kann der Herkunfts- und Muttersprachenunterricht ein Safe(r) Space sein?
Özlem Demir1, Aybike Savaç2
1Universität Wien, 2Universität Hamburg
Der Begriff Safe(r) Space beschreibt einen möglicherweise sicheren bzw. sichereren Raum, in dem marginalisierte Gruppen keine oder weniger Stigmatisierung erfahren als in anderen Räumen. Die populäre Verwendung dieses Begriffs, besonders an Universitäten, führt zu einem kontroversen gesellschaftlichen Diskurs über die Existenz solcher Räume. Inwiefern dieser sog. Safe(r) Space frei von Stigmatisierungen sein kann und inwiefern die Notwendigkeit für einen solchen Raum als Ort für den Ausbau einer gesprochenen Sprache zu „Othering“-Mechanismen beiträgt, ist fraglich. Die Vermittlung sprachlichen sowie soziokulturellen Wissens durch die HU/MU-Lehrkräfte und nach Oğuzkan-Savvidis (2005) und Subklew (2001) deren Beitrag zur sog. „Integration“ auf der einen Seite und die Marginalität des Faches auf der anderen Seite könnten mit Mecheril (2011) zu „Othering“-Effekten führen. Das heißt, es interessiert uns, ob die Teilnehmer*Innen des HU/MU mit diesem Unterricht ein „Empowerment“ als Mitglieder der Migrationsgesellschaft erfahren oder ob sie durch die Organisation des Faches und seine Inhalte sich eher als „Andere“ erleben. Der Vortrag geht mit Bezug auf Forschungsergebnisse der Frage nach, inwiefern der HU/MU einen Safer Space bilden könnte und arbeitet Desiderata heraus, die mit weiterer Forschung geklärt werden sollten.
Migrationspädagogische Perspektiven auf den muttersprachlichen Unterricht und kritische Professionalisierung
Dr. Assimina Gouma1, Weichselbaum Maria2
1Bergische Universität Wuppertal, 2Universität Wien
Die institutionellen Rahmenbedingungen des muttersprachlichen Unterrichts (MSU) werden von den Unterrichtenden mehrfach als prekär und schwierig beschrieben. In der Analyse von qualitativen Interviews mit MSU-Lehrkräften gehen wir mit migrationspädagogischem Zugang (Mecheril et al. 2010) den Fragen nach, welche Erfahrungen sie in der monolingualen Institution Schule machen und wie die Marginalisierung des MSU in gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Subjektivierungen der Migrationsgesellschaft eingebunden ist. Es zeigt sich einerseits, dass die Spannungsverhältnisse des professionellen Wissens und Handelns der MSU-Lehrkräfte in Verbindung zu gesellschaftlich-diskursiven Bedingungen bzw. der darin reflektierten Positionierung migrantischer Sprachen stehen. Andererseits wird deutlich, dass auch unterschiedliche Verständnisse von Mehrsprachigkeit relevant sind, um die Randständigkeit des MSUs zu verstehen. Diese prekären Umstände beeinflussen zudem die kritische Professionalisierung (vgl. Messerschmidt 2016) der MSU-Lehrkräfte.
„du bist im System, aber du gehörst nicht zum System“ - Berufsalltagserleben und die professionelle Selbstwahrnehmung von Lehrkräften des muttersprachlichen Unterrichts in Österreich
Prof. Dr. Marion Döll1, Sabine Guldenschuh2
1PH Oberösterreich, 2Karl-Franzens-Universität Graz
Unterricht in der Herkunftssprache wird in Österreich seit den 1990er Jahren angeboten. Untersuchungen aus dieser Zeit zeigen, dass nur wenige Lehrkräfte explizit sprachdidaktisch qualifiziert waren und unter prekären Bedingungen arbeiteten (Çınar 1998), über die aktuelle Situation ist wenig bekannt. Erste Anhaltspunkte dafür, dass sich die Umstände nicht wesentlich verändert haben, bieten zehn Expert*inneninterviews, die im November 2015 mit Teilnehmenden eines Hochschullehrgangs zum muttersprachlichen Unterricht in Oberösterreich geführt wurden. In unserem Beitrag möchten wir die Ergebnisse einer Sekundäranalyse des Datensatzes vorstellen, in der entlang des Modells professioneller Handlungskompetenz (Baumert & Kunter 2006) und den von Calderhead (1996) skizzierten Facetten von teacher beliefs das Berufsalltagserleben und die professionelle Selbstwahrnehmung der Befragten rekonstruiert wird. Dabei treten das Belastungserleben, das professionelle Selbstverständnis und v.a. die Rahmenbedingungen der Durchführung des Unterrichts als zentrale Kategorien hervor. In der Gesamtschau werden akademisch hoch qualifizierte, engagierte und anpassungsfähige Lehrkräfte sichtbar, die im Zusammenhang mit linguizistischen Rahmenbedingungen ihrer beruflichen Tätigkeit hohen Belastungen ausgesetzt sind und deren professionelles Selbstverständnis unter gegebenen bildungspolitischen Umständen im Spannungsfeld zwischen Schulleitung, Eltern und Schüler*innen fortlaufend irritiert wird.
MU in Kroatisch oder doch weiterhin in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch? Sind Initiativen zur Ausrichtung des MU nach dem Konzept "Nation" Ausdruck eines legitimen Kampfs um Anerkennung?
Prof. Dr. Rainer Hawlik
PH Wien
Die transmigratorischen Fluchtbewegungen als Folge des Zerfalls der SFR Jugoslawien zu Beginn der 1990er liegt schulpädagogisch in Österreich eng zusammen mit der Einführung des Muttersprachlichen Unterrichts (MU) im Jahr 1992. Bosnisch/Kroatisch/Serbisch zählt heute neben Türkisch zu den am meisten vertretenen Sprachen des MU in Österreich. Die Institutionalisierung von MU in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch war eine bewusst getroffene Entscheidung des Bildungsministeriums, wenngleich sich in Jugoslawien bereits seit den 1960er Jahren nationalistische Konflikte an der plurizentrischen Sprache Serbokroatisch entzündeten. Besonders seit Kroatien 2013 der EU beitrat, formt sich vereinzelt immer wieder organisierter Widerstand gegen einen gemeinsamen Unterricht aller Sprachvarietäten. Am 16.06.2020 hat eine parlamentarische Bürger*inneninitiative einen Antrag eingebracht, um Kroatisch als eigenständigen muttersprachlichen Unterricht zu sichern. Ihr Anliegen ist es "die kroatische Sprache aus dem künstlichen BKS-Konstrukt (BKS - Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) zu lösen bzw. ein endgültiges Trennen dieser drei Sprachen zu gewährleisten."
Der Vortrag geht der Frage nach, ob die Ausrichtung des MU am Konzept "Nation" aus migrationspädagogischer Sicht als Ausdruck eines legitimen Kampfs um Anerkennung gewertet werden kann. Gibt hier "eine Nation, eine Sprache" den Ausschlag oder die womöglich identitätspolitische Vorstellung "Kroat*in bist du überall, solange du Kroatisch sprichst"?