Kein Unterricht, aber Schule: (mediale) Praktiken an der Peripherie von Schule-halten
Chair(s): Dr. Isabel Neto Carvalho (TU Kaiserslautern, Deutschland), Prof. Dr. Mandy Schiefner-Rohs (TU Kaiserslautern, Deutschland), Carina Troxler (TU Kaiserslautern, Deutschland)
Die Pandemiegeschehen zeigt, dass Unterricht ein fragiles Konstrukt ist, für das es aktuell neue Beschreibungen braucht. Meist wird gefragt, was „guter“ Unterricht sei, und dies unterschiedlich beantwortet. Anders als in praxeologisch-kulturtheoretischen Unterrichtsdiskursen, bleibt hier ungeklärt, wie Unterricht, als Konglomerat aus performativen Handlungsakten und Subjektpositionierung, immer wieder neu hervorgebracht wird. Die Schulschließungen haben Entgrenzungsprozesse in ungeahnter Weise sichtbar gemacht. Schule in der Digitalität lässt die zur Hilfe genommenen Grenzen institutioneller Rahmungen wie Raum und Zeit verschwimmen. Die Arbeitsgruppe erkundet Orte und Zeitgefüge, an denen „Schule“ stattfindet, die aber aus Akteursperspektive kein „Unterricht“ im engeren Sinn sind. Sie analysiert aus einer interdisziplinär-ethnographischen Perspektive Praktiken, die an der Grenze von unterrichtlichem Geschehen stattfinden, um sich von „Außen“ einer Bestimmung von Unterricht anzunähern.
Beiträge des Panels
„Zuhause-Schule“ – Ethnographische Beobachtungen zu Unterricht außerhalb der institutionellen Grenzen von Raum und Zeit
Dr. Isabel Neto Carvalho, Prof. Dr. Mandy Schiefner-Rohs, Carina Troxler
TU Kaiserslautern, Deutschland
Der Frage folgend, wie sich unterrichtliches Geschehen an seinen Grenzen zeigt, werden im Vortrag aus medien- und schulpädagogischer Perspektive Einblicke in Praktiken von Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern während der Schulschließungen im letzten Jahr gegeben. Zur Erweiterung und empirischen Sättigung der v.a. quantitativ geprägten Forschungsperspektive (vgl. z.B. Fickermann & Edelstein, 2020) auf die „Zuhause-Schule“ (der Begriff wird von einer der von uns untersuchten Familien verwendet) nehmen wir ethnographisch-rekonstruierend (Heim-)Arbeitsplätze von Lehrer*innen und das Lerngeschehen im Zuhause der Schüler*innen in den Blick, um die Vorbereitung und Umsetzung von Lernofferten zu beobachten. Im Rahmen des Vortrags werfen wir Schlaglichter auf verschiedene (mediale) Praktiken: Vorbereitungspraktiken von Lehrpersonen, die z. B. nach multimedialen Lernmitteln recherchieren und Lehrfilme produzieren. Im Zuhause der Schüler*innen sind ebenso sich transformierende Praktiken erkennbar: wir sehen Eltern, die Lernstoff selektieren, reduzieren und alternative Lernwege suchen. Diese ordnen wir schultheoretisch betrachtet dem Kerngeschäft von Lehrpersonen zu. Demnach lassen sich auch Rollenwechsel erkennen, durch die Eltern zu aktiven (Co-)Gestalter*innen der Zuhause-Schule werden. Durch das In-Beziehung-Setzen dieser unterschiedlichen Praktiken an den Grenzen von Schule und der damit verbundenen Ent-Grenzung von Unterricht kann auf dessen aktuelle Gestalt geschlossen werden.
“Ringen um Ordnung” an den Rändern von Schule – (Un)doing School in außerunterrichtlichen Ganztagsangeboten
Prof. Dr. Till-Sebastian Idel
Karl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Deutschland
Der Vortrag stützt sich auf Ethnographien außerunterrichtlicher Angebote in ganztägigen Schulen der Sekundarstufe I, die in einem gerade abgeschlossenen DFG-Projekt durchgeführt wurden (Graßhoff et al. 2020). Das Projekt rekurriert auf praxistheoretische Entwürfe zu einer Theorie der Lernkultur (Idel/Rabenstein 2019), die nicht auf Unterricht fixiert ist und einen heuristischen Rahmen für komparative Analysen zu Verschiebungen schulischer Praktiken bietet. Für den Vortrag werden jene (in Ganztagsschulen nicht geringen) Angebote in den Blick genommen, die von pädagogischen Laien veranstaltet werden. Diese Personen verfügen über keine formale pädagogische Qualifizierung und sind nur sehr lose als Grenzgänger oder Zaungäste in den schulischen Betrieb eingebunden. Sie kennen die Schüler*innen meist nur flüchtig, weil die Gruppen in diesen Angeboten in der Regel halbjährlich wechseln. Die teilnehmenden Beobachtungen weisen darauf hin, dass in diesen Angeboten in besonderer Weise jene rahmenden institutionellen Strukturierungen, auf die sich die Interaktionspraxis des Unterrichts quasi gratis “verlassen” kann, dispensiert sind. Die Konstitutionsprozesse einer sozialen und pädagogischen Ordnung sind in diesen Angeboten wesentlich fragiler. Der Vortrag zeigt, wie unter diesen Bedingungen schulische Praktiken moduliert werden, um Ordnung gerungen wird und in diesen explizit als unterrichtsfern deklarierten Angeboten in ambivalenter Weise Elemente des Unterrichts zitiert werden.
Unterrichtsvorbereitung. Medienpraktiken vor dem Gong
Dr. Tobias Röhl
Pädagogische Hochschule Zürich, Schweiz
Der schulische Mediengebrauch beginnt nicht erst mit dem Gong. Schon vor Unterrichtsbeginn müssen digitale wie analoge Medien auf den Unterricht vorbereitet werden, damit sie dort Praxis vorwegnehmen und in der Praxis verwendet werden können. Diese Form der Unterrichtsvorbereitung findet an unterschiedlichen Orten statt. In der Lehrmittelindustrie gestalten die Hersteller die Unterrichtsmedien so, dass sie bestimmten Annahmen über Bildung entsprechen (Kalthoff et al., 2020). Auf Bildungsmessen wie der didacta werden diese Medien vermarktet und durch Überbietungs- und Revolutionsnarrative zu begehrenswerten Produkten gemacht. In der Unterrichtsvorbereitung sorgen Lehrpersonen für einen reibungslosen Ablauf und eine mediale Verdichtung. Der Beitrag entwickelt seine Argumentation auf Grundlage verschiedener ethnographischer Forschungsprojekte zur sozio-materiellen Dimension schulischer Bildung. Schulische Bildung – so zeigt der Beitrag – ist auch schon vor Corona und dem digitalen Wandel ein verteiltes, transsituatives Geschehen. Verschiedene Akteure arbeiten schrittweise daran, dass Unterrichtsmedien etwas schulisch Relevantes zeigen können.
“Schule – Nicht-Schule – Nicht-Nicht-Schule” – Entgrenzungspotenziale ästhetischer Praktiken in Schule und Unterricht
Dr. Tanja Klepacki
Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland
Ästhetischen Praktiken wird vielfach nicht nur ein besonderes Bildungspotenzial zugeschrieben, sie gelten auch - zumindest wenn sie konventionalisierte kulturelle Formen nicht lediglich affirmativ reproduzieren, sondern diese iterativ-tentativ transformieren – als kulturelle Artikulations- und Handlungsweisen, die den schulisch-unterrichtlichen Alltag potentiell variieren können und tradierte Grenzen von Schule und Unterricht – im metaphorischen wie topographischen Sinne – hinterfrag- und verhandelbar werden lassen.
Ausgehend von einem Verständnis von Schule, das diese als einen zentralen Ort der Präsentationen und Repräsentation von Kultur – im weitesten Sinn – in den Blick nimmt (Mollenhauer 2003), geht dieser praxeologisch-kulturtheoretisch orientierte Vortrag anhand empirischer Beispiele der Frage nach, inwiefern ästhetische Praktiken – sei es nun in den tradierten, dezidiert kunstästhetisch ausgewiesenen Fächern, v.a. aber auch darüber hinaus – aufgrund der potenziell transgressiv-explorativen Grundstruktur ästhetischer Artikulationsweisen (Jörissen 2015) dazu beitragen können „Third Spaces“ (Bhabha 2000) – im Sinne eines liminalen Zwischenraums von Schule, Nicht-Schule und Nicht-Nicht-Schule (Schechner 1990) – zu eröffnen, in denen aufgrund der Herstellung von Unbestimmtheit (Marotzki 1988) sowie vor dem Hintergrund neu- und andersartiger Relationierungsangebote bspw. Subjektpositionen jenseits tradierter kultureller Normen hervorgebracht und eingenommen werden können.